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Bericht des

Bundesrates an die Bundesversammlung über Art. 10 des Verantwortlichkeitsgesetzes des Kantons Graubünden vom 16. November 1902 (Beurteilung von Verantvvortlichkeitsklagen gegen das Kantonsgericht oder einzelne Mitglieder desselben durch das Bundesgericht).

(Vom 2. Juni 1903.)

Tit.

Mit Zuschrift vom 31. Januar stellt der Kleine Rat des Kantons · Graubünden an uns zu Händen der schweizerischen Bundesversammlung den A nt r ag:

Es wolle die Bundesversammlung die in Art. 10 des bünd nerischen Gesetzes betreffend Verantwortlichkeit der Behörden, Beamten und öffentlichen Angestellten enthaltene Zuweisung der Kompetenz an das hohe Bundesgericht genehmigen.

Zur Begründung wird ausgeführt: Am 16. November 1902 habe das Bündnervolk einen Gesetzesvorschlag über die Verantwortlichkeit der Behörden, Beamten und öffentlichen Angestellten angenommen, welches Gesetz am

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1. Januar 1903 in Kraft getreten sei. Art. 10 dieses Gesetzes bestimme, daß Klagen gegen das Kantonsgericht oder einzelne Mitglieder desselben in die Kompetenz des Bundesgerichtes fallen sollen.

Das Bundesgericht sei nach Art. 52 des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege verpflichtet, die Beurteilung von Streitigkeiten zu übernehmen, welche ihm von der Verfassung oder Gesetzgebung der Kantone überwiesen werden, vorausgesetzt, daß die Bundesversammlung hierzu ihre Genehmigung erteile.

Deshalb wurde das Gesuch um Genehmigung bei der Bundesversammlung gestellt.

Wir haben das Gesuch des Kleinen Rates des Kantons Graubünden dem ßundesgericht zum Bericht überwiesen.

Mit Zuschrift vom 12. Mai spricht sich das Bundesgericht dahin aus: ,,In Beantwortung dieser Anfrage beehren wir uns nun, Ihnen mitzuteilen, daß wir angesichts der zitierten positiven Gesetzesbestimmung (Art. 52, Ziff. 2, des Organisationsgesetzes) gegen den genannten Gesetzesvorschlag nichts einzuwenden haben/' Der Wortlaut des Art. 10 des bündnerischen Verantwortlichkeitsgesetzes bestimmt : ,,Mit Bezug auf die Zuständigkeit und das Verfahren bei Schadensersatzklagen gelten die in der Zivilprozeßordnung enthaltenen Vorschriften, mit der Ausnahme, daß Klagen, die gegen den Kleinen Rat, gegen Bezirks- oder Kreisgerichte (das im gedruckten Text der Botschaft stehende Wort ,,Kriegsberichte beruht wohl auf einem Druckfehler) oder gegen einzelne Mitglieder dieser Behörden erhoben werden, vom Kantonsgerichte, und K l a g e n , d i e g e g e n , l e t z t e r e s o d e r e i n z e l n e . M i t g l i e d e r desselben gehen, vom Bundesgerichte zu entscheiden sind.

Bildet eine Amtspflichtverletzung den Gegenstand eines Strafprozesses, so kann die Erledigung allfalliger Zivilansprüche damit verbunden werden, sofern diese nach Art. 9 noch nicht verjährt sind.a Art. 52, Ziff. 2, des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege bezieht sich auf die Zivilrechtspflege. Er lautet :

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^Das Bundesgericht ist verpflichtet, die erst- und letztinstanzliche Beurteilung anderer^ als der in den vorhergehenden Artikeln genannten Rechtsfälle zu übernehmen: l 2. wenn durch die Verfassung oder die Gesetzgebung eines Kantons bestimmte Streitigkeiten an das Bundesgericht gewiesen werden, wozu jedoch die Genehmigung der Bundesversammlung erforderlich ist."1 Die in Art. 10 des bündnerischen Gesetzes geregelte Klage ist eine Zivilklage: es ist die Schadensersatzklage gegen eine bestimmte Beamtenkategorie (das Kantonsgericht und dessen einzelne Mitglieder) aus einer Verletzung der Amtspflicht.

Der Kanton G-raubünden macht mit dem Erlaß seines Verantwortlichkeitsgesetzes Gebrauch von der den Kantonen in Art. 64, Absatz l, Obligationenrecht gegebenen Befugnis, über die Ersatzpflicht für Schaden, welchen öffentliche Beamte und Angestellte in Ausübung ihrer amtlichen Verpflichtungen verursachen, besondere Bestimmungen aufzustellen.

Die materielle Grundlage der Klage ist in Art. 4 des Gesetzes geordnet; danach ist die Klage nur bei vorsätzlicher oder aus grober Fahrlässigkeit begangener Amtspflichtverletzung gegeben, und es wird die weitere Voraussetzung daran geknüpft, daß der Geschädigte es nicht unterlassen hat, von dem ihm zu Gebote stehenden Rechtsmittel behufs Abwendung des Schadens Gebrauch zu machen.

Art. 9 des Gesetzes ordnet die Verjährung und schließt die Zivilklage der den Beamten anstellenden Korporation aus, wenn die Behörde oder der Beamte über seine Amtshandlungen Rechenschaft gegeben hat und diese von der zuständigen Behörde genehmigt ist. Vorbehalten bleiben für den letzten Fall Arglist, Vorsatz oder Rechnungsirrtum.

Das Bundesgericht würde bei einer vor sein Forum gelangenden Klage diese Grundsätze zur Anwendung zu bringen haben, wobei wir annehmen, daß die Bestimmung des Art. 8 des Gesetzes, wonach bei einer mutwilligen Klage eine Buße von Fr. 10 bis 300 mit der Abweisung zu verknüpfen ist, für die vom Bundesgericht zu beurteilenden Fälle wegfallen würde, indem für diese die Disziplinarbestimmungen von Art. 22 des Bundesgesetzes über das Verfahren bei dem Bundesgerichte in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten vom 22. November 1850 in Verbindung mit Art. 39 des Organisationsgesetzes zur Anwendung gelangen würden.

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Ebenso wird die Kompetenz des Bundesgerichtes ausgeschlossen sein, wenn die Zivilklage in Verbindung mit dem Strafverfahren vor den kantonalen Strafgerichten angebracht wird, sofern die Amtspflichtverletzung zugleich eine strafbare Handlung bildet (Art. 10, Abs. 2).

Aus den bis jetzt gemachten Ausführungen ergibt sieh, daß die Voraussetzungen des Art. 52 des Organisationsgesetzes erfüllt sind. Es liegt vor ein Akt kantonaler Gesetzgebung, und es sind durch diesen Gesetzgebungsakt bestimmte Zivilstreitigkeiten (Zivilklage aus Verantwortlichkeit gegen das bündnerische Kantonsgericht oder einzelne Mitglieder desselben) in die Kompetenz des Bundesgerichtes gestellt.

Die Genehmigung eines kantonalen Gesetzgebungsaktes, durch welchen bestimmte Streitigkeiten an das Bundesgericht gewiesen werden, ist in das freie Ermessen der Bundesversammlung gestellt.

Bis jetzt ist die Bundesversammlung noch nicht in die Lage gekommen, dieses Genehmigungsrecht auszuüben, da, soweit uns bekannt, die Bestimmung des Art. 79 der Kantonsverfassung von Schaffhausen, nach welcher das Kassationsverfahren im Zivilprozeß auch dem Bundesgerichte zugewiesen werden könnte, noch keine gesetzliche Ausgestaltung erfahren hat.

Da das Bundesgericht selbst, das doch in erster Linie sich darüber auszusprechen hätte, ob aus der Übertragung neuer Kompetenzen Nachteile zu befürchten stehen, keine Bemerkungen in dieser Hinsicht macht und die Fälle von Verantwortlichkeitsklagen gegen ein kantonales Obergericht oder dessen einzelne Mitglieder nur höchst selten und vereinzelt vorkommen, so sehen wir keine besondern Gründe, welche gegen eine Überweisung der Kompetenz an das Bundesgericht sprechen. Man könnte höchstens geltend machen, daß die gewöhnliche Zivilgerichtsbarkeit auch für solche Fälle als ausreichend erscheinen dürfte, indem jede Zivilprozeßordnung dafür sorgen muß, daß ein Gericht auch dann vollzählig besetzt werden kann, wenn alle oder einzelne seiner Mitglieder sich im Ausstande befinden.

Dagegen läßt sich allerdings geltend machen, daß gewisse Gründe dafür sprechen, Schadensersatzklagen aus Verantwortlichkeit gegen die oberste Gerichtsbehörde oder deren Mitglieder einer Instanz zu übertragen, welche vollständig den Einflüssen und Stimmungen des lokalen Milieus entzogen ist.

Wir beantragen :

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Es sei dem Gesuche des Kleinen Rates des Kantons Graubilnden Folge zu geben und von der Bundesversammlung die Genehmigung des Art. 10 des Bündner Verantwortlichkeitsgesetzes auszusprechen, soweit in dieser gesetzlichen Bestimmung dem Bundesgericht eine Kompetenz zur Beurteilung von Schadensersatzklagen aus Verantwortlichkeit gegen das Kantonsgericht oder einzelne Mitglieder desselben übertragen wird.

Genehmigen Sie, Tit., die Versicherung unserer vollkommenen Hochachtung.

B e r n , den 2. Juni 1903.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident:

Deucher.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Eingier.

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