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Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend die schweizerische Reaktorpolitik (Vom 27. Dezember 1966)

Herr Präsident, Hochgeehrte Herren, Am 16. März 1966 reichten Herr Nationalrat Wartmann und 38 Mitunterzeichner eine Motion betreffend die schweizerische Reaktorpolitik ein, die folgenden Wortlaut hat : «Der Bundesrat wird, im Zusammenhang mit seiner Botschaft vom S.Februar 1966 betreffend weitere Massnahmen zur Förderung der schweizerischen Reaktortechnik, beauftragt, beförderlich ein detailliertes Programmfür die Fortführung und Beendigung der Entwicklungsstudien innerhalb der bewilligten Finanzierungsgrenze vorzulegen und sich über seine zukünftige Konzeption auf diesem Gebiete zu äussern.» National- und Ständerat haben diese Motion in der Juni- bzw. SeptemberSession des gleichen Jahres angenommen. Wir beehren uns, Ihnen hiermit entsprechend den darin formulierten Begehreu zu berichten.

Einleitung

Die zukünftigen Pläne für die schweizerische Reaktortechnik können nur aufgrund der bisherigen Entwicklung und der heutigen Lage verstanden werden.

Insbesondere hängt die Rolle des Bundes auf diesem Gebiete von den gesetzlichen und historischen Gegebenheiten ab. Deshalb soll zuerst darüber Auskunft gegeben werden: 1. Die bisherigen Massnahmen des Bundes zur Förderung der schweizerischen

Reaktortechnik

a) Die gesetzlichen Grundlagen Der Bund hat sich relativ früh für die Anwendungen der Atomenergie interessiert. Schon am 8. Juni 1946 ernannte der Bundesrat die Schweiz. Studienkom-

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mission für Atomenergie und regelte gleichzeitig ihre Zielsetzung und Tätigkeit in einer Verordnung. Noch im gleichen Jahr (18.Dezember 1946) hiessen die beiden Räte einen Entwurf des Bundesrates zu einem JBundesbeschhiss gut, der die folgenden 3 Artikel als wesentlichsten Bestandteil enthielt:

Art. l Der Bund fördert die Forschung auf dem Gebiete der Atomenergie.

Art. 2 Die notwendigen finanziellen Mittel werden alljährlich in den Voranschlag aufgenommen.

Art. 3 Der Bundesrat erlässt die erforderlichen Ausführungsvorschriften.

Dieser Beschluss basierte auf Artikel 23 der Bundesverfassung, der dem Bund das Recht gibt, im Interesse der Eidgenossenschaft oder eines grossen Teiles derselben öffentliche Werke zu errichten oder deren Errichtung zu unterstützen. Auf der gleichen Grundlage kam der Bundesbeschluss vom 21. Dezember 1954 über die Förderung des Baues und Betriebes eines Kernreaktors zustande.

Die Konferenz über die friedliche Verwendung der Atomenergie, die 1955 unter dem Patronat der Vereinigten Nationen in Genf stattfand, gab zum ersten Mal einen eindrücklichen Überblick über die rasch fortschreitenden Entwicklungen auf diesem Gebiete. Allerseits realisierte man damals in der Schweiz, dass die Nutzbarmachung dieser neuen Energiequelle eine so grosse ökonomische, soziale und kulturelle Bedeutung erlangen wurde, dass eine umfassende gesetzliche Ordnung geschaffen werden musste. Am 24. November 1957 nahmen Volk und Stände den Artikel 24iuiniules der Bundesverfassung an, der die Gesetzgebung auf dem G ebiete der Atomenergie zur Bundessachc erklärte. Gestützt auf diese Kompetenz beschloss die Bundesversammlung am 23. Dezember 1959 das Bundesgesetz über die friedliche Verwendung der Atomenergie und den Strahlenschutz.

In Artikel 2 dieses Gesetzes wird festgehalten, dass der Bund «die wissenschaftliche Forschung über die friedliche Verwendung der Atomenergie» fördert. Hinsichtlich der Forschung von Erwerbsunternehmen wird am gleichen Ort gesagt, dass dafür keine Bundesbeiträge ausgerichtet werden. Ausnahmsweise können aber, falls ein öffentliches Interesse vorliegt, Vorhaben derartiger Unternehmen zur Förderung der Forschung und zur Ausbildung von Fachleuten mit Bundesmitteln unterstützt werden. In der Botschaft betreffend den Entwurf zum zitierten Gesetz wird gefordert, dass die industrielle Zweckforschung von der Industrie aus eigenen Mitteln finanziert werde. Es wird allerdings darauf hingewiesen, dass diese Einschränkung nicht ausschliesst, dass im allgemeinen Interesse liegende Forschungsauftràge an private Unternehmungen vergeben und mit Mitteln des Bundes unterstützt werden können. In der erwähnten Botschaft wird sodann in Aussicht gestellt, dass in Zukunft aufgrund von Artikel 2 die für derartige

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Zwecke erforderlichen Mittel einfach über den Voranschlag des Bundes angefordert werden.

Die angeführte Formulierung des Gesetzes führte dazu, dass die staatliche Förderung der Anstrengungen der schweizerischen Industrie, Zugang zur Reaktortechnik zu erhalten, weiterhin eine Ermessensfrage blieb. In der Folge hat es der Bundesrat vorgezogen, den Räten jedesmal eine spezielle Vorlage zu unterbreiten, wenn er für derartige Zwecke Kredite erhalten wollte. Am 15.

März 1960 beschloss die Bundesversammlung, den Bau und den Experimentalbetrieb von Versuchs-Leistungsreaktoren mit insgesamt 50 Millionen Franken zu unterstützen. In der Botschaft zu diesem Beschluss war ausdrücklich festgehalten worden, dass mit der Gewährung einer Bundeshilfe an der primären Verantwortung der privaten Wirtschaft für den technischen Fortschritt nichts geändert werden solle. Dementsprechend sollte der als Starthilfe gedachte Beitrag die Hälfte des Gesamtaufwandes nicht übersteigen und konnte, je zu gleichen Teilen, als a-fonds-perdu-Beitrag und als zinsloses, bedingt rückzahlbares Darlehen gewährt werden. Der Bundesbeschluss legte ausserdem fest, dass die so bereitgestellten Mittel einer nationalen Organisation auszurichten sind. Diese hat für deren zweckmässigen Einsatz sowie für die technische Zusammenarbeit der beteiligten Unternehmungen zu sorgen. Im Jahre 1964 bewilligten die Räte einen Nachtragskredit von 12 Millionen Franken, um eine Beteiligung des Bundes an den Budgeterhöhungen der inzwischen entstandenen nationalen Organisation, der Nationalen Gesellschaft zur Förderung der industriellen Atomtechnik (NG A) zu ermöglichen. Am 21. Juni 1966 genehmigte die Bundesversammlung neuerdings einen Kredit von 11 Millionen Franken für die Fertigstellung und Erprobung des Versuchs-Kernkraftwerkes Lucens und 8 Millionen Franken zur Fortführung der Entwicklungsarbeiten im Anschluss an die begonnenen Studien der NGA.

Neben dieser Unterstützung der einheimischen industriellen Entwicklung in der Reaktortechnik haben die Räte dem Bundesrat auch die Möglichkeit gegeben, tatkräftig beim Aufbau der Forschungs- und Versuchseinrichtungen in Würenlingen mitzuwirken. Darüber wird eingehender in Abschnitt l c berichtet werden. Hier sei lediglich festgehalten, dass die Bundesversammlung, solange sich die dortigen Anlagen in den Händen der
Privatwirtschaft, nämlich der Reaktor AG, befanden, für diese verschiedentlich Mittel bewilligte, zum ersten Mal 11,8 Millionen Franken am 13. Juni 1954, wovon aber nur 6,8 Millionen Franken beansprucht werden konnten, und dann in Form von Zusatzkrediten 3,7 Millionen Franken am 13. Juni 1957 und 4,5 Millionen Franken am 19. März 1958.

Schlussendlich wurde am 2. Oktober 1958 ein Überbrückungskredit von 30 Millionen Franken gewährt, der die Weiterführung des Ausbaus und Betriebes der Anlagen in Würenlingen bis zur Übernahme durch den Bund ermöglichte. Am 14. März 1960 stimmte die Bundesversammlung der Übertragung der Anlagen der Reaktor AG in Würenlingen an eine der Eidgenössischen Technischen Hochschule angeschlossene Anstalt zu und bewilligte für die Beendigung des ursprünglichen Bauprogrammes und die Weiterführung des Betriebes bis Ende 1960

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16,2 Millionen Franken. Von diesem Zeitpunkt an wurden die Aufwendungen für die Anlage in Würenlingen im Rahmen des Budgets der ETH gedeckt.

b) Die Schweizerische Studienkommission für Atomenergie (SKA) Der 1946 ernannten Studienkommission für Atomenergie fiel im ersten Jahrzehnt nach dem Weltkrieg die Aufgabe zu, die vom Bunde aus möglichen Hilfen für den Aufbau einer eigenen Reaktortechnik vorzuschlagen und die entsprechenden Massnahmen zu überwachen.

Die SKA setzte sich aus Dozenten der schweizerischen Hochschulen, vor allem Physikern, und Vertretern der interessierten Bundesverwaltung zusammen.

Herr Prof. P. Scherrer präsidierte sie während der ganzen Zeit ihres Bestehens.

Die Kommission beschrankte sich nicht auf die Unterstützung der Grundlagenforschung, sondern verwendete auch einen Teil der verfügbaren Mittel für die Projektierung von Versuchsreaktoren und die Abklärung der Beschaffungsmöglichkeiten der für den Bau und Betrieb eines solchen Reaktors notwendigen Materialien und Brennstoffe. Gemeinsam mit der Arbeitsgemeinschaft Kernreaktor Brown, Boveri/Escher-Wyss/Sulzer wurden eine Reihe von Reaktorprojekten ausgearbeitet, wobei ein Schwerwasser-Reaktor besonders interessant erschien.

Die Ausführung auch nur eines dieser Vorhaben scheiterte lange daran, dass der notwendige Kernbrennstoff, das Uran, nicht erworben werden konnte. Erst 1955 gelang es, Uran im Ausland zu kaufen. Zur Beschaffung des schweren Wassers unterstützte die SKA Forschungen des verstorbenen Prof. Dr. W. Kühn in Basel, der Verfahren zur Gewinnung dieses Stoffes aus gewöhnlichem Wasser entwickelte. Bevor diese an undf ür sich erfolgreichen Arbeiten zu einer Anlage im Industriemassstab führten, wurde relativ billiges amerikanisches schweres Wasser zugänglich, so dass auf eine eigene Produktion zu diesem Zweck verzichtet werden konnte.

Nachdem die Erstellung eines Versuchsreaktors von der Reaktor AG übernommen worden war, beschränkte sich die SKA noch vermehrt auf die Unterstützung der Grundlagenforschung auf dem Gebiete der Atomenergie. Im Zuge einer Reorganisation und Erweiterung der Bundeshilfe an solche Forschungen wurde 1958 die Kommission für Atomwissenschaften im Rahmen des Schweiz.

Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung geschaffen. Als Folge dieser Entwicklung wurde das Ende 1958
abgelaufene Mandat der SKA, die eine wichtige Rolle bei den ersten Schritten in der schweizerischen Reaktortechnik gespielt hatte, nicht mehr erneuert.

c) Das Eidgenössisches Institut für Reaktorforschung

(EIR)

Eine wichtige Aufgabe bei den schweizerischen Anstrengungen in der Reaktortechnik erfüllt das Eidgenössische Institut für Reaktorforschung. Diese Annexanstalt der ETH übernahm bei ihrer Gründung am 1. Mai 1960 die Anlagen der Reaktor AG in Würenlingen, die jene mit privaten und öffentlichen Mitteln seit dem Jahr 1955 aufgebaut hatte, wobei fast das gesamte dort arbeitende

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Personal in den Dienst des Bundes trat. Bis zur erwähnten Übertragung sind von über 130 Firmen insgesamt 18 Millionen Franken direkt und etwa 5 Millionen Franken indirekt oder in Naturalleistungen an das Forschungszentrum beigetragen worden, während der Bund 28 Millionen Franken für Bauten und Einrichtungen, sowie 17 Millionen Franken für die Betriebskosten der Reaktor AG zur Verfügung stellte. Seit dem l. Mai 1960 wird der weitere Ausbau der Anlagen wie auch der Betrieb ganz vom Bund finanziert, der dafür bis heute total 187,5 Millionen Franken ausgegeben hat. Das EIR behielt unverändert die Zielsetzungen der Reaktor AG für die Einrichtungen in Würenlingen bei. Auf dem Gebiete der Reaktortechnik umfassen diese den Bau und Betrieb von Versuchsreaktoren, die Schaffung wissenschaftlicher und technischer Grundlagen für die Konstruktion und den Betrieb industriell verwendbarer Reaktoren zur Energieerzeugung, Studien zur Entwicklung der hierfür notwendigen Maschinen und Apparate und die Ausbildung von Fachpersonal. Nachdem in der Schweiz nach der geltenden Ordnung die Verantwortung für die Planung der eigenen Anstrengungen in der Reaktortechnik bei der interessierten Industrie hegt, die sich auf Verlangen des Bundes in der Nationalen Gesellschaft zur Förderung der industriellen Atomtechnik (NGA) zusammengeschlossen hat, richtete bis jetzt das EIR sein entsprechendes Arbeitsprogramm ganz auf die Vorhaben der NGA aus. Die Fachleute des EIR haben, namentlich auf dem Gebiete der Reafctorphysik, die Firmen beraten, die das Versuchs-Kernkraftwerk Lucens projektierten. Einige experimentelle Untersuchungen, insbesondere über das Verhalten der Brennstoffelemente, wurden im gleichen Zusammenhang in Würenlingen unternommen. Vor allem leistet aber das EIR einen wesentlichen Beitrag an die sog. Entwicklungsstudien (siehe Abschnitt l d) und 3 b)) der NGA. Die Kommission für Entwicklungsstudien, die das Programm für diese Arbeiten vorgeschlagen hat und für dessen Ausführung der NGA gegenüber verantwortlich ist, wird von einem der Direktoren des EIR präsidiert. Etwa die Hälfte der in diesem Rahmen definierten Aufgabenkreise betreut das EIR im Auf trag der NGA als federführende Stelle, da die entsprechenden Studien und Untersuchungen vorwiegend in Würenlingen unternommen werden müssen. Dazu wurde dem EIR auch die
Bearbeitung der dampf gekühlten Variante des schwerwassermoderierten Reaktors übertragen. Die Arbeiten, die das EIR für die NGA ausgeführt hat, wurden ihr bisher entsprechend den Abmachungen zwischen Bund und NGA diesem Unternehmen bisher zu einem reduzierten Tarif von 35 % der Selbstkosten verrechnet.

Ausserhalb der Tätigkeit für die NGA hat das EIR experimentelle Arbeiten für das Dragon-Untcrnehmen in Grossbritannien, an dem die Schweiz beteiligt ist, und andere ausländische Stellen ausgeführt. Einige Bedeutung für die Forschung und die medizinische Therapie hat die Herstellung von Radioisotopen in den Anlagen des Institutes gewonnen. Sodann benutzen verschiedene Forschungsgruppen der Hochschulen die Einrichtungen in Würenlingen für ihre Zwecke. Für die schweizerische Wirtschaft leistet das EIR auch als Ausbildungsstätte für Fachleute in der Nukleartechnik gute Dienste. Hochschul- und Technikumsstudenten erhalten in Würenlingen eine wertvolle praktische Ausbildung.

Daneben gibt das EIR immer wieder erfahrene Mitarbeiter an die Wirtschaft ab,

210 die dort z.B. beim Bau der neuerdings beschlossenen Kernkraftwerke Schlüsselpositionen übernommen haben.

Um all diesen Augfaben gerecht zu werden, mussten in den letzten Jahren nicht nur die Anlagen ausgebaut, sondern auch das Personal erweitert werden.

Die Schwierigkeit, hochqualifizierte Mitarbeiter zu den beim Bund üblichen Bedingungen zu rekrutieren, und die Massnahmen im Zusammenhang mit dem Personalstop haben es zudem allerdings erschwert, mit den Bedürfnissen Schritt zu halten.

Auch heute noch wird ein unverhältnismässig grosser Teil des Personals nur für die Aufrechterhaltung des Betriebes benötigt. Mit einem gegenwärtigen Bestand von etwa 550 Mitarbeitern steht das EIR an zweitletzter Stelle in der Liste nationaler Forschungszentren, die für die Pflege der Reaktortechnik in den westlichen Industrieländern geschaffen wurden. Für schweizerische Verhältnisse erreicht das Budget des EIR mit 25 Millionen Franken für 1967 allerdings eine ansehnliche Höhe. Wie auch ausländische Fachleute immer wieder anerkennend feststellen, verfügt das Institut heute über gut geplante und qualitativ hochstehende Forschungs- und Versuchseinrichtungen. Damit ist das notwendige Minimum für eigene Beiträge an die Reaktortechnik vorhanden.

Der Ausbau der Anlagen in Würenlingen bat die Kräfte des EIR bis vor kurzem wesentlich beansprucht. Nachdem die geplanten grösseren Gebäude alle bezogen werden konnten und auch die umfangreichen Versuchseinrichtungen speziell für das Programm der NGA fertiggestellt sind, kann sich das Institut auf die Forschung und die Zusammenarbeit mit der industriellen Entwicklung konzentrieren. Die zunehmende Zahl von Berichten und Vorträgen über die am EIR geleisteten Arbeiten, die teilweise auch im Ausland Beachtung gefunden haben, belegen den erfolgreichen Übergang zur neuen Phase.

Die Unsicherheit, die in der Wirtschaft hinsichtlich der zukünftigen Zielsetzung für den schweizerischen Reaktorbau besteht, wirkt sich immer stärker auf das EIR aus. Die Finanzierungsschwierigkeiten, mit denen die NGA fast ständig kämpft, gefährden die Fortsetzung und vernünftige Beendigung der NGAAufträge und damit eine sinnvolle Tätigkeit der meisten Forschungsabteilungen des EIR. Die Direktion des Instituts wurde deshalb beauftragt, Vorschläge auszuarbeiten, die dem EIR eine grössere Unabhängigkeit
von den kurzfristigen Plänen der Industrie und deren Bereitschaft zur Bezahlung von Untersuchungen am EIR geben. Speziell sollen dabei Probleme berücksichtigt werden, die in die weitere Zukunft weisen.

d) Die Nationale Gesellschaft zur Förderung der industriellen Atomtechnik (NGA) Nachdem im Jahre 1960 die Bundesversammlung die finanziellen Voraussetzungenfür eine Beteiligung des Bundes an den Anstrengungen für eine eigene Reaktorentwicklung geschaffen hatte, schlössen sich die auf diesem Gebiete interessiererten Gruppen im Juli 1961 entsprechend den Wünschen des Bundesrates in der Nationalen Gesellschaft zur Förderung der industriellen Atomtechnik zusammen. Schon vorher einigten sich die drei Gründeraktionäre, Energie

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Nucléaire SA (ENUSA), Suisatom AG und Therm-Atora AG, die ursprünglich jeder ein eigenes Versuchs-Kernkraftwerk hatte erbauen wollen, auf die Verwirklichung des Therm-Atom-Projektes am geplanten Standort der ENUSA bei Lucens. Die NGA übernahm die Bauherrschaft dieses Werkes. Neben der Erstellung und dem Betrieb dieser Anlage wollte man im Rahmen der NGA auch Vergleichsstudien zwischen der in Lucens realisierten Rcaktorkonzeption und ausländischen Reaktortypen durchführen. Man erkannte jedoch bald, dass ein Forschungs- und Entwicklungsprogramm mit dem Ziel, die im Versuchskernkraftwerk Lucens verwendete Technik weiter auszubauen und zu verbessern, zum Schritthalten mit den ausländischen Anstrengungen unerlässlich sein würde.

Zunächst wurde am l. Juli 1962 mit der Erstellung des Versuchs-Kernkraftwerkes von etwa 7-8 Megawatt elektrischer Leistung in Lucens begonnen. Die aus einem Zusammenschluss von deutsch- und welschschweizerischen Firmen, welche an der Lieferung von Komponenten für Kernkraftwerke interessiert waren, entstandene Therm-Atom AG schloss sich mit drei Ingenieurbüros zur Arbeitsgemeinschaft Lucens (AGL) zusammen.Diese wurde von der NGA mit der Projektierung, dem Bau und der Erprobung des Werkes beauftragt. Die erste Etappe, das Ausspreugen und Betonieren der unterirdischen Kavernen für den Reaktor, das Vorratslager für die Brennstoffelemente und den Maschinensaal, beanspruchte wesentlich mehr Zeit als vorhergesehen. Dafür muss der Mangel an genügend Arbeitskräften verantwortlich gemacht werden. Ende März 1965 konnte mit einer Verspätung von 15 Monaten gegenüber dem ursprünglichen germinkalender die Reaktorkaverne für die eigentlichen Montagearbeiten freiTegeben werden. Die oberirdischen Bauten, ein Maschinen- und Verwaltungsgebäude in Verbindung mit dem Zugangsstollen, waren schon früher fertig geworden. Die Installation der Maschinen und Einrichtungen des Kernkraftwerkes, die zum grössten Teil von schweizerischen Unternehmungen geliefert werden, schreitet seit der Beendigung der Bauarbeiten relativ rasch voran. Bis jetzt sind bei der Montage keine grösseren Verzögerungen aufgetreten, die sich auf wesentlich mehr als zwei Monate belaufen. Ende 1966 wird der Reaktor mit den heute bereits fertig fabrizierten Brennstoffelementen geladen und dann die erste Kettenreaktion eingeleitet. Die
anschliessend vorgesehenen Versuche bei schrittweise zunehmender Leistung werden voraussichtlich den grösseren Teil des Jahres 1967 beanspruchen. Diese Ausprüfperiode, die im Vergleich zur Anlaufszeit bei den heute industriereifen Kernkraftwerken lange erscheint, wird benötigt, nicht nur um gegenüber dem Auftraggeber und den Sicherheitsbehörden die Einhaltung der Spezifikationen nachzuweisen, sondern auch um möglichst viel Kenntnisse über das Verhalten der gewählten Materialien und Konstruktionen in allen Betriebslagen zu erhalten.

Die Kostenschätzungen für den Bau und die Erprobung des Kernkraftwerkes Lucens mussten verschiedentlich nach oben revidiert werden. Wie es auch ausländische Vorhaben ähnlicher Art zeigen, wird der Aufwand für derartige neue Projekte meistens zu tief angesetzt. Während im ersten Budget der NGA 1961 64,5 Millionen Franken für Bau und Erprobung des Werkes Lucens eingesetzt wurden (inklusive Vorleistungen der Therm-Atom AG), ist dieser Posten

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inzwischen auf 110,5 Millionen Franken (totaler Bauaufwand 92,0 Millionen Franken, Erprobung 10,5 Millionen Franken, Reserven 8 Millionen Franken) angestiegen. Trotzdem beträchtliche Reserven eingesetzt wurden, lassen neuere Überprüfungen befürchten, dass diese nicht ausreichen, um alle Kostenüberschreitungen zu decken.

Für die Durchführung der Entwicklungs- und Vergleichsstudien ernannte der Verwaltungsrat der NGA im Oktober 1962 die Kommission für Entwicklungsstudien (EK). Ihr gehören leitende Fachleute der Reaktortechnik aus dem EIR, den Elektrizitätswerken, den Ingenieurbüros und aus der Industrie (ThermAtom und BBC) an. Unter der Leitung der Kommission wurdeein im Juni 1962 beschlossenes Arbeitsprogramm in Angriff genommen, das allerdings äusserst bescheiden war. Ein den Bedürfnissen besser angepasstes Programm der EK wurde im Oktober 1963 vom Verwaltungsrat der NGA gutgeheissen. Mit einem Aufwand der NGA von 24 Millionen Franken sollten in diesem Rahmen die Unterlagen für den Bau eines grösseren Prototyp-Kernkraftwerkes geschaffen werden. Um eine optimale Konzeption zu finden, beabsichtigte die EK, drei Varianten des schwerwassermoderierten Reaktors (l. Variante : Gaskühlung, Brennstoff Uranmetall ; 2, Variante : Gaskühlung, BrennstoffUranoxyd; 3. Variante : Leichtwasser-Darnpf kühlung, Brennstoff Uranoxyd) zu untersuchen. Die überwiegende Mehrheit der einheimischen Fachleute war sich einig, dass der SchwerwasserReaktortyp im Hinblick auf die schweizerischen Möglichkeiten und die allgemeinen Zukunftsaussichten der geeignetste Gegenstand einer eigenen Reaktorentwicklung darstellte. So bestand kein Grund, diese Richtung zu verlassen, welche die Industrie seinerzeit auch dem Ausbau des Reaktorzentrums m Würenlingen und ihren ersten Projekten für Kernkraftwerke zugrunde gelegt hatte.

Auf dieser Grundlage begannen die interessierte Industrie und das EIR eine Anzahl von Experimenten zur Abklärung der entsprechenden material- und konstrufctionstechnischen Probleme. Im Rahmen von Vorprojekten wurden die verschiedenen Verbesserungsmöglichkeiten gegenüber der in Lucens verwirklichten Konzeption beurteilt. Dabei mussten die Spezifikationen der verschiedenen Anlageteile unter Berücksichtigung der bekannten Materialeigenschaften so bestimmt werden, dass die beste Wirtschaftlichkeit erreicht werden kann.
Neben diesen Arbeiten wurden auch Vergleiche über die auf dem Markt offerierten Kernkraftwerke angestellt und die Probleme bei der Übertragung ausländischer Kostenschätzungen auf schweizerische Verhältnisse untersucht.

Leider musste das Entwicklungsprogramm auf Ersuchen der Industrie mehrmals eingeschränkt werden. Schuld daran waren die Finanzierungsschwierigkeiten, die Anlass gaben, alle verfügbaren privaten Mittel zur Deckung der Kostenüberschreitung beim Versuchsatomkraftwerk Lucens heranzuziehen. Deshalb sah sich der Verwaltungsrat der NGA im Juni dieses Jahres genötigt, NGAMittel nur im Ausmasse von 9,2 Millionen Franken für die bis dahin in Auftrag gegebenen EK-Studien zur Verfügung zu stellen. Die am Reaktorbau interessierte Industrie erklärte sich dabei bereit, für die Fortsetzung ihrer Arbeiten bis und mit 1967 gemeinsam mit dem Bund zu gleichen Teilen ein Budget von 5,2Millionen Franken zu finanzieren.

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Die an den EK-Studien beteiligten Unternehmen konnten ebenfalls nicht genügend Fachpersonal zur Verfügung stellen, so dass sie mit den übernommenen Arbeiten noch stärker als das EIR in Rückstand gerieten. Diese Entwicklung führte notwendig zu einem immer stärkeren Anlehnungsbedürfnis an gleichgerichtete ausländische Anstrengungen in der Reaktortechnik, worauf wir im Abschnitt l e) zurückkommen werden.

e) Internationale Verbindungen Die beschränkten finanziellen und personellen Mittel, die in der Schweiz zur Verfügung stehen, gestatten es sicherlich nicht, eine eigene Reaktorentwicklung durchzuführen, die in all ihren Teilen (z.B. Reaktorkonstruktion, Instrumentierung, Brennstoffabrikation) vollkommen unabhängig ist. Die Zusammenarbeit mit dem Ausland wurde daher seit längerem als zwingende Notwendigkeit allgemein erkannt.

Sobald dies möglich wurde, haben die Bundesbehörden Rahmenabkommen mit Staaten, die eine fortgeschrittene Reaktortechnik besitzen (USA, Frankreich, Kanada, und Grossbritannien), abgeschlossen. Diese schufen die Grundlagen für eine engere Zusammenarbeit bei spezifischen Vorhaben. Dementsprechend hat die NGA mit Bundesunterstützung Vereinbarungen mit verschiedenen staatlichen Organisationen (französisches Commissariat à l'énergie atomique, britische Atomic Energy Authority, schwedische AB Atomenergi), die schwerwassermoderierte Reaktoren entwickeln, abgeschlossen. Diese Abmachungen sehen zum Teil eine bezahlte Beratung der NGA, zum Teil einen gegenseitigen Austausch von Erfahrungen vor. In den gleichen Zusammenhang gehört die Beteiligung des Bundes am «Halden»-Unternehmen in Norwegen, wo verschiedene Probleme de§ siedewassergekühlten Schwerwasserreaktors bearbeitet werden. Neuerdings hat die Firma Gebr. Sulzer AG mit Zustimmung der NGA eine Zusammenarbeit für Projektstudien über ein gasgekühltes schwerwassermoderiertes Reaktorkonzept (d.h. der 2.Variante des EK-Programmes) mit dem französischen Commissariat à l'énergie atomique und den Siemens Schuckert-Werken vereinbart. Längere Verhandlungen über einen Vertrag zur Unterstützung eines Projektes für einen leichtwasserdampfgekühlten schwerwassermoderierten Reaktortyp (d.h. der 3. Variante des EK-Programmes) mit der staatlichen Atomic Energy of Canada Ltd. sind leider wegen der zögernden Haltung der schweizerischen Industrie im
letzten Moment gescheitert.

Die schweizerische Reaktortechnik hat auf Grund dieser Abmachungen bereits manche wertvollen Informationen erhalten, die ihr umfangreiche eigene Arbeiten erspart haben und sie vor kostspieligen Fehlern bewahrten. Insbesondere konnte so weitgehend vermieden werden, dass man in der Schweiz nochmals alles selber erforschen musste, was im Ausland schon bekannt war. Manchmal genügt es allerdings nicht, einzig die Resultate der Untersuchungen und die Beschreibungen sowie Pläne von neuentwickelten Konstruktionen zu erhalten.

Es sind dazu noch sehr viele praktische Erfahrungen erforderlich, bevor diese Informationen im eigenen Reaktorbau richtig verwendet werden können. In Bundesblatt. 119. Jahrg. Ed.I.

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derartigen Fällen muss man oft selber Versuchseinrichtungen aufbauen und damit experimentieren.

Für einen wichtigen Teil der Reaktorentwicklung, der die Brennstoffelemente betrifft, stutzt sich die schweizerische Wirtschaft weitgehend aufs Ausland ab. Die erste Ladung Brennstoffstabe für das Werk Lucens wurde in Frankreich hergestellt. Die Brennstoffelementefür die Forschungsreaktoren des E1R wurden m Kanada, den USA und Deutschland fabriziert. Vorläufig besteht, international gesehen, eine allerdings rasch abnehmende Überkapazität in der Brennstoffelementproduktion. In unserem Lande, dem ohnehin die für eine solche Tätigkeit notwendigen Metallurgen mangeln, hat die Industrie vorläufig auf eine eigene Anstrengung auf diesem Gebiete verzichtet. Auf lange Sicht betrachtet wäre es allerdings bedauerlich, wenn keine schweizerische Unternehmung Interesse für die Herstellung von Brennstoffelementen zeigen würde. Sobald in der Schweiz eine Anzahl Kernkraftwerke, welche die gleichen oder ähnliche Brennstoffelemente verwenden, im Betrieb stehen werden, könnte eine Eigenproduktion auf diesem Gebiete wirtschaftlich attraktiv werden. Wahrend der Lebzeit eines Leistungsreaktors (bis zu 30 Jahren) erfordert nämlich die Fabrikation der Brennstoffelemente finanzielle Aufwendungen, welche die gleiche GrÖssenordnung wie diejenigen für die nuklearen Teile solcher Anlagen besitzen. Im gegebenen Zeitpunkt wird man für den Aufbau einer eigenen Brennstoffproduktion auf ausländische Hilfe angewiesen sein. Zu den Gebieten, auf denen sich die schweizerische Wirtschaft auf die internationale Zusammenarbeit abstützt, gehören die Entwicklung eines gasgekühlten Hochtemperaturreaktors und die Aufarbeitung gebrauchter Brennstoffelemente.

Die Beteiligung am Gemeinschaftsunternehmen «Dragon» in Winfrith (Grossbritannien) und an der «Eurochemic»-Gesellschaft in Mol (Belgien) im Rahmen der OECD gibt den interessierten Kreisen den Zugang zur entsprechenden Technik. Beim «Dragon»-Unternehmen wird mit einem Aufwand von über 300 Millionen Franken ein vielversprechender gasgekühlter Hochtemperaturreaktor entwickelt, der wie der Schwerwasserreaktor zur Familie der fortgeschrittenen Konverterreaktoren gehört. Diese Reaktortypen nützen den Kernbrennstoff (Uran) besser als die heute industriereifen Reaktoren aus und ermöglichen auch die
Verwendung von Thorium zur Energieerzeugung. Das Programm des «Dragon»-Unternehmens schliesst allerdings nur die Errichtung und den Betrieb eines Versuchsreaktors ein, so dass der Eigenbau eines Prototyp-Kernkraftwerkes vorgesehen werden müsste, falls man auf dieser Linie weiterschreiten möchte. Die Firma AG Brown, Boveri & Cie (Baden) hat sich entschlossen, ein Projekt für eine solche Anlage auszuarbeiten, worauf wir im Abschnitt 3 b) noch zurückkommen werden.

Hinsichtlich der Aufarbeitung gebrauchter Brennstoffelemente, die für die schweizerische Elektrizitätswirtschaft, sobald sie Kernkraftwerke betreibt, aktuell wird, beschränkt sich die Schweiz darauf, über ihre Beteiligung an der «Eurochemic» Informationen über den Bau und den Betrieb von Aufarbeitungsanlagen zu beschaffen. Der Umgang mit den hochradioaktiven gebrauchten Brennstoffelementen erfordert teure, fernbediente Anlagen, deren Kosten auf

215 eine möglichst grosse Produktion verteilt werden sollten. Deshalb kann die Erstellung einer eigenen Aufarbeitungsfabrik höchstens dann gerechtfertigt werden, wenn mehrere Kernkraftwerke in der Schweiz die Produktion aufgenommen haben werden.

In der sich nun klar abzeichnenden internationalen Konkurrenz bei der Lieferung von Kernkraftwerken treten im Ausland außerordentlich starke Konzerne auf, die erst noch eine grosszügige Staatshilfefür ihre Reaktorentwicklung erhalten. Deshalb werden wahrscheinlich die heute im Reaktorbau noch nicht etablierten Unternehmungen nur mit Hilfe einer vernünftigen internationalen Gruppierung ihrer Kräfte gute Aussichten für eine angemessene Beteiligung am Weltmarkt für Reaktoren gewinnen können. Wegen der führenden Rolle, die in den meisten anderen Industrienationen staatlichen Stellen bei der Reaktorentwicklung zukommt, wird der Bund in gewissen Fällen vielleicht noch zusätzliche staatliche Vereinbarungen abschliessen müssen, um eine derartige Zusammenarbeit zu ermöglichen.

f) Die biskerigen finanziell en Leistungen Nachfolgende Aufstellung gibt Auskunft über die bisherigen finanziellen Leistungen des Bundes und der Privatwirtschaft für die Reaktorentwicklung: Bund (bis Ende 1966) FrST Studienkommission für Atomenergie ca. 2 Beiträge für Reaktor AG, später Eidg. Institut für Reaktorforschung ca. 187,5 NGA ca. 50 Beitrag an «Eurochemic» ca. 11,6 Beitrag an «Halden» ca. 3,8 Beitrag an «Dragon» ca. 10 Total

ca. 265

Wirtschaft (einschhcsslich Kantone und Gemeinden) Studien von 1946-1955 Reaktor AG Beteiligung «Eurochemic» und «Dragon» NGA :

ca. 2 ca. 23 ca. 2 ca. 53

Total

ca. 80 2. Heutige Lage

a) Das Bedürfnis für einen schweizerischen Reaktorbau und der Bau von Kernkraftwerken mit ausländischen Reaktoren in der Schweiz Der Reaktorbau hat in der letzten Zeit so erhebliche Fortschritte gemacht, wie sie selbst optimistische Fachleute noch vor zwei Jahren kaum vorauszusagen wagten. In den USA sind 1966 20 Kernkraftwerke mit einer Leistung von

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20000 MW bestellt worden, d.h. mehr solche Anlagen als konventionell thermische Kraftwerke. Bis Ende 1963 wurde die Auffassungvertreten, dass die Atomenergie erst gegen Ende des nächsten Jahrzehntes in grösserern Massstabe in unserem Lande Eingang finden werde. Heute steht bereits ein Kernkraftwerk von 3 60 MW elektrischer Leistung im Bau und wird voraussichtlich 1969 den Betrieb aufnehmen. Für ein zweites von 306 MW elektrischer Leistung wurden die Aufträge vergeben, so dass in diesem Falle mit der Inbetriebnahme für das Jahr 1971 gerechnet werden kann. Beide Anlagen werden mit amerikanischen Leicht wasserreaktoren ausgerüstet, die angereichertes Uran als Brennstoff verwenden.

Weitere zum Teil noch grössere Projekte werden gegenwärtig ausgearbeitet. Abgesehen von den bestehenden Wasserkraftwerken und vom Bedarf zur Deckung der Verbrauchsspitzen, wofür hydrauh'sehe Speicherwerke vorteilhafter sind, darf unter den heutigen Verhältnissen erwartet werden, dass bei uns künftig mit Hilfe der Atomenergie die billigsten Stromkosten erzielt werden können.

Die überraschende Entwicklung im Bau von Kernkraftwerken hat nicht nur in der Elektrizitätswirtschaft zu weitreichenden Umstellungen geführt. Auch die Industrie, die im Kraftwerksbau tätig ist, muss neue Anordnungen treffen, um mit dieser Lage fertig zu werden. Die beiden grössten amerikanischen Reaktorlieferanten erklären heute, dass ihre Kapazität für die Erstellung von Kernkraftwerken, die 1970 den Betrieb aufnehmen sollten, erschöpft ist. Sie interessieren sich nur mehr für Aufträgefür Anlagen, die nach 1971 in die Elektrizitätsversorgung eingeschaltet werden sollen.

Offensichtlich haben diese Firmen heute ein beträchtliches Interesse, andernorts verfügbares Industriepotential für die Fabrikation von Teilen ihres so erfolgreichen Produktes einzusetzen. Damit bietet sich der schweizerischen Industrie die Möglichkeit, sich am Komponentenbau für Kernkraftwerke zu beteiligen. Im gegenwärtigen Zeitpunkt ist es schwer zu beurteilen, wie lange eine solche Tätigkeit, die vorwiegend auf eine ausländische Technik abstellt, aufrecht erhalten werden kann.

Die schweizerische Industrie hegt die Überzeugung, dass die Reaktortechnik nicht nur für den Kraftwerksbau, sondern «auch auf die Entwicklung anderer Produkte und Verfahren ausstrahlen und befruchtend wirken
wird» (Zitat aus einem Brief der Therm-Atom AG vom 31. Oktober 1966). Ein Verzicht auf eigene originelle Beiträge zu dieser Technik wird sich deshalb über den Kraftwerksbau hinaus auf weitere Zweige der einheimischen Wirtschaft auswirken und insbesondere deren Selbständigkeit gefährden. Beispielsweise werden in absehbarer Zeit Dieselantriebe für Schiffe durch Kernreaktoren ersetzt werden und auch bei der Fernheizung ist die Verwendung der Atomenergie zu erwarten. Falls der Übergang zum Reaktorbau nicht vollzogen werden kann; muss befürchtet werden, dass die erheblichen Investitionen der schweizerischen Industrie in Einrichtungen (z.B. Werkzeugmaschinen) für den Grossmaschinenbau in absehbarer Zeit teilweise brachliegen würden.

Andererseits haben die eigenen und ausländischen Erfahrungen gezeigt, dass eine vollkommen eigenständige Reaktorentwicklung die Kräfte der schweizerischen Industrie, besonders wenn sie mehr als nur einen Reaktortyp verfolgt,

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übersteigt. Selbst bei den fortgeschrittenen Konverterreaktoren (zu denen der Schwerwasser- und der gasgekühlte Hochtemperatur-Reaktor gehören) beziffert die Therm-Atom den Aufwand, der ausgehend vom heutigen Stand der Technik zur Erreichung der Marktreife derartiger Kernkraftwerke notwendig ist, auf 300-400 Millionen Franken. Die Firma BBC ihrerseits schätzte den Einsatz für die Entwicklung des Hochtemperaturreaktors und die Erstellung eines PrototypKraftwerkes dieser Konzeption auf ca. 200 Millionen Franken. Bei den sog.

Brutreaktoren, deren Verwendung in der Elektrizitätsversorgung von den meisten Fachleuten auf lange Sicht als unerlässlich betrachtet wird, sind die zur Erreichung der Marktreife notwendigen Investitionen heute noch wesentlich höher (l ,5-2 Milliarden Franken) zu veranschlagen.

Zwischen den angeführten Extremen bestehen verschiedene Möglichkeiten für eine Beteiligung an der Reaktortechnik. Auch wenn die schweizerische Industrie die sich gegenwärtig bietende Gelegenheit zur Lieferung von Komponenten für Kernkraftwerke ausländischer Konzeption nutzen will, so muss dies nicht die Aufgabe eigener Anstrengungen in der Reaktortechnik bedeuten. Im Gegenteil können auf dieser Basis wertvolle Erkenntnisse für die eigene Reaktortechnik gewonnen werden. Zusätzlich sind allerdings bedeutende Anstrengungen aller interessierter Schweizer Kreise notwendig, um eine einigermassen gesicherte Stellung im Reaktorbau zu erringen.

Hinsichtlich der Möglichkeiten, die in dieser Richtung bestehen, zitieren wir die Auffassung einer bekannten Unternehmung des Elektromaschinenbaues : «Die schweizerische Industrie verfügt über eine Anzahl von gewichtigen Vorzügen, die sie in den Stand versetzen, den selbständigen Reaktorbau nicht von vornherein als aussichtslos zu betrachten.

- Zugang zu weltweiten Märkten und damit eine solide Basis für die Beurteilung technischer und wirtschaftlicher Fragen.

- Hoher Entwicklungsstand einer grossen Anzahl von Reaktorprojekten in der ganzen Welt mit verhältnismässig freizügigem Erfahrungsaustausch, auch zum Vorteil der Schweiz.

- Spezifische Kenntnisse in der Reaktortechnik, wie sie von den Projekten Lucens und Dragon den interessierten Industriefirmen zur Verfügung stehen.

- Verfügbarkeit dieser beiden Versuchseinrichtungen, zusammen mit den Experimeqtieranlagen des
EIR in Würenlingen für Entwicklungsaufgaben im Zusammenhang mit der Projektierung eines Kraftwerkes.

- Ein sich schnell vergrösserndes Erfahrungspotential für die Projektierung und den Bau von Gesamtanlagen durch die Erstellung der Kernkraftwerke Beznau und Mühleberg.

- Nicht zuletzt eine technisch und fabrikatorisch sehr hochstehende Maschinenund Apparateindustrie, die aus ihren Kenntnissen und Erfahrungen sicher die Voraussetzungen mitbringt, auch die besonderen Probleme des Reaktorbaues zu meistern. »

218 Damit die bestehenden Gelegenheiten voll ausgenützt werden können, wird eine gute Zusammenarbeit der schweizerischen Unternehmungen miteinander und mit ausgewählten, gleichinteressierten ausländischen Partnern notwendig sein, b) Die Notwendigkeit einer Bundeshilfe In allen Stellungnahmen, die wir bis jetzt aus dem Kreise der Maschinenindustrie erhalten haben, wird die Auffassung vertreten, dass die Entwicklungskosten für einen marktreifen Kernkraftwerks-Typ so hoch sein werden, dass sie von den beteiligten Industriefirmen nicht allein aufgebracht werden können (z. B. Stellungnahme des Vereins Schweizerischer Maschinenindustrieller vom S.November 1966). Eine Industriegruppierung hat sogar öffentlich die Meinung geäussert, dass selbst wenn sie die Reaktorentwicklung gemeinsam mit einem ausländischen Partner unternehmen könnte, der Bund zum Ausgleich der ausländischen Staatsbeiträge, die marktverfälschend wirken, den grösseren Teil der damit verbundenen Kosten übernehmen müsste (Pressekonferenz der Therm-Atom AG vom 20. Oktober 1964).

In den grossen Industriestaaten hat die Regierung in der Tat wenigstens die ersten Etappen der Reaktorentwicklung entweder ausschliesslich oder mehrheitlich finanziert. Gleichzeitig haben dort aber staatliche Stellen die Führung übernommen und die Zielsetzung der Anstrengungen auf diesem Gebiete festgelegt.

Das ausländische Beispiel kann also nicht ohne weiteres auf schweizerische Verhältnisse übertragen werden. Immerhin muss anerkannt werden, dass es für die einheimische Wirtschaft aus Strukturgründen (Grosse der Unternehmungen) praktisch unmöglich wäre, die Reaktorentwicklung gleich wie jede andere Industrieentwicklang zu finanzieren. Die Schnelligkeit, mit der die Reaktortechnik im Ausland fortschreitet, gestattet nicht, in einem den Kräften der einzelnen interessierten Firma angemessenen Tempo die Arbeiten auf diesem Gebiete voranzutreiben.

Es darf auch nicht ausser acht gelassen werden, dass gegenwärtig m vielen Fällen Kernkraftwerke schlüsselfertig bestellt werden. Die Elektrizitätswerke verlangen sodann vom Lieferanten weitgehende Garantien, die besonders zu Beginn des kommerziellen Reaktorbaues erhebliche finanzielle Risiken darstellen. Berücksichtigt man noch, dass die Kraftwerke wegen der damit verbundenen finanziellen Vorteile mit immer grösseren
Leistungen geplant werden, so dass ein einzelner Auftrag heute oft mehrere hundert Millionen Franken umfasst, dann versteht man die Notwendigkeit einer staatlichen Unterstützung bei den Bemühungen der einheimischen Industrie, Zugang zum Reaktorbau zu finden.

Dieses Bedürfnis zeigt sich im heutigen Zeitpunkt, in dem einige ausländische Firmen das Reaktorgeschäft im grossen Ausmass betreiben können, stärker denn je. Ohne eine angemessene Bundeshilfe wird die einheimische Reaktorentwicklung aller Voraussicht nach eingestellt werden. Eine derartige Unterstützung muss aber den schweizerischen Verhältnissen Rechnung tragen.

219 Bei uns ist es die Industrie, die den Reaktorbau in eigener technischer Verantwortung an die Hand nimmt. Eine solche Regelung erfordert, dass die interessierten Firmen auch beträchtliche eigene Mittel einsetzen und Risiken übernehmen, damit der Ansporn zum möglichst rationellen und sparsamen Arbeiten bestehen bleibt.

Der Bund hat bisher schon den Anstrengungen für einen schweizerischer Reaktorbau erhebliche Unterstützung geliehen. Trotz seiner angespannten Finanzlage sollte er diese Hilfe auch in Zukunft nicht versagen, wenn eine einsatzbereite Industrie in dieser Richtung mit Entschlossenheit und unter eigenen Opfern weiterarbeiten möchte. Vielleicht werden in Zukunft andere Formen der staatlichen Förderung der Reaktorentwicklung in den Vordergrund treten, wie z. B. die Übernahme von Garantien bei Prototyp-Kernkraftwerken. Vernünftige und gut fundierte Vorhaben in dieser Hinsicht können aber erst an Hand von konkreten Vorschlägen gemacht werden. Auf jeden Fall steht es heute schon fest, dass die Bundeshilfe nur einen recht beschränkten Umfang haben kann, so dass die entsprechenden Begehren eng koordiniert und aufs Notwendigste konzentriert sein müssen.

3. Die Pläne für die Zukunft a) Vorbemerkungen Um Aufschluss über die Auffassung der interessierten Wirtschaft auf diesem Gebiete zu erhalten, hat sich das Eidgenössische Verkehrs- und Energiewirtschaftsdepartement an die zuständigen Organisationen gewendet. Der Vorort des Schweizerischen Handels- und Industrievereins wurde am 29. April 1966 brieflich gebeten, Stellung zu den folgenden Fragen zu nehmen : 1. Soll die schweizerische Reaktorentwicklung vom Bund weiterhin unterstützt werden ?

2. In welcher Form sollte eine allfällige staatliche Unterstützung erfolgen ?

3. Welche Zielsetzungen schlägt die Industrie vor für die Weiterführung der Anstrengungen in der schweizerischen Reaktortechnik?

4. In welcher Weise gedenkt die Industrie sich zur Erreichung der unter 3. genannten Ziele zu organisieren?

Am 8. Juni 1966 wurde mit einem Schreiben die NGA ihrerseits aufgefordert, dem Bund ihre Überlegungen zu den nachstehenden drei Problemkreisen darzulegen : 1. Die Fortführung und Beendigung der Entwicklungsstudien auf Grund des Kredites von 8 Millionen Franken, der vom Parlament bewilligt worden ist.

2. Der Einsatz des Versuchs-Kernkraftwerkes Lucens nach Abschluss der Erprobung.

3. Die Fortsetzung der schweizerischen Reaktorentwicklung in der Zukunft.

220 Im Anschluss an diese beiden Briefe besprach sich der Vorsteher des Eidgenössischen Verkehrs- und Energiewirtschaftsdepartements verschiedentlich mit Delegationen des Vorortes, der NGA, der unmittelbar berührten Firmen sowie einzelner Elektrizitätswerke. Leider ergab sich, dass die bestehende Ungewissheit über die langfristige Zukunft des schweizerischen Reaktorbaues vorläufig nicht behoben werden kann. Immerhin konnte eine Einigung über das Vorgehen bis Ende 1967 erzielt werden. Die Umstellung auf den Reaktorbau, die heute in verschiedenen Ländern rasch vor sich geht, beeinflusst stark die Aussichten der schweizerischen Wirtschaft auf diesem Gebiete. Deshalb muss dem Wunsche, die zukünftigen Pläne in der Reaktortechnik flexibel zu gestalten, so dass sie rechtzeitig den Gegebenheiten angepasst werden können, Verständnis entgegengebracht werden. Das sollte aber nicht verhindern, dass sich die schweizerische Industrie grundsätzlich heute schon einigt über die grossen Ziele, die sie im Reaktorbau auf längere Frist gesehen erreichen möchte.

b) Fortsetzung und Beendigung der Entwicklungsstudien im Rahmen der NGA Aus der Antwort der NGA vom 11. November 1966 auf das in den Vorbemerkungen erwähnte Schreiben des Vorstehers des Eidgenössischen Verkehrsund Energiewirtschaftsdepartements und den dieser beigefügten Unterlagen sowie weiteren Informationen ergibt sich das folgende Programm für die Entwicklungsstudien der NGA : Die Resultate der bisherigen Arbeiten, welche die Kommission für Entwicklungsstudien der NGA ausgeführt hat, haben ergeben, dass von den drei untersuchten Varianten eines schwerwassermoderierten Druckrohrreaktors eine fallen gelassen werden kann. Es handelt sich dabei um den Reaktortyp, bei dem als Brennstoff Uranmetall und als Kühlmittel Kohlendioxyd verwendet wird. Die Berechnungen zeigen, dass Kernkraftwerke dieser Art teurere Stromkosten aufweisen würden, als Anlagen, bei denen das gleiche Kühlmittel aber Uranoxyd als Brennstoff zum Einsatz kommen würde. Während in dieser Hinsicht eine Reduktion des ursprünglichen Rahmenprogramms erfolgen konnte, ergab sich andererseits eine Erweiterung, indem die Firma BBC Ende des letzten Jahres ihre Absicht bekannt gab, ein Projekt für einen Hochtemperaturreaktor auf der Basis der im Dragon-Gemeinschaftsunternehmen entwickelten Technik
auszuarbeiten. Die Firma BBC möchte im Rahmen der NGA Entwicklungsarbeiten und Studien im Zusammenhang mit ihrem Projekt in Auftrag geben.

Dementsprechend hat der Verwaltungsrat der NGA beschlossen, das Rahmenprogramm für die Entwicklungsstudien, was die Schwerwasserlinie anbetrifft, auf die mit Uranoxyd als Brennstoff arbeitenden zwei Varianten (Gaskühlung bzw. Leichtwasserdampfkühlung) zu beschränken, und andererseits durch die Einbeziehung von Arbeiten über den Hochtemperaturreaktor zu erweitern. Die Berücksichtigung des Hochtemperaturreaktors war schon in den ersten Programmen der Kommission für Entwicklungsstudien vorgesehen worden. Die bereits begonnen Arbeiten wurden aber in der Schweiz angesichts des Mangels

221

an Fachleuten eingestellt, als in das Dragon-Programm nachträglich solche Projektstudien einbezogen wurden.

Nach den Plänen der NGA sollen die beschriebenen Entwicklungsstudien bis Ende 1967 abgeschlossen werden. Konkret wird in diesem Zeitraum auf Grund des Vertrages zwischen dem französischen Commissariat à l'energie atomique, der Firma Siemens und der Firma Sulzer ein Vorprojekt für ein Prototyp-Kernkraftwerk mit einem gasgekühlten Schwerwasserreaktor von 600 MW elektrischer Leistung ausgearbeitet. Hinsichtlich der zweiten Variante, des leichtwasserdampfgekülilten Druckrohrreaktors, ist vorgesehen, dass das EIR, das von der NGA seinerzeit einen entsprechenden Auftrag erhalten hat, seine Studien in beschränktem Ausmass in diesem Zeitraum zu Ende führt.

Beim Hochtemperaturreaktor sollen bis Ende 19 67 verschiedene Untersuchungen von Spezialproblemen, die sich im Zusammenhang mit der Projektierung eines Prototyp-Kernkraftwerkes auf der Basis dieser Technik ergeben, am EIR und eventuell auch am Gemeinschaftsunternehmen Dragon in Winfrith (Grossbritannien) unternommen werden. Der finanzielle Aufwand der NGA für alle beschriebenen Arbeiten beträgt maximal 5,7 Millionen Franken für das Jahr 1967, die zur Hälfte von den direkt interessierten Unternehmungen getragen werden müssen. Der Bund seinerseits übernimmt auf Grund des von den Räten am 2I.Juni 1966 bewilligten Kredites von 8 Millionen Franken den Rest, indem er nach dem bisher geltenden Schlüssel für je 50 Prozent der Summe einen àfonds-perdu-Beitrag bzw. ein Darlehen zur Verfügung stellt. Das Ziel der NGA besteht darin, die vorgesehenen Arbeiten auf Ende 1967 abzuschliessen, in der Annahme, dass sich dann die Beteiligten auf Grund der vorhandenen Informationen schlüssig werden könnten, in welcher Weise die Anstrengungen in der schweizerischen Reaktortechnik weitergeführt werden sollen.

c) Die Stellungnahme der Wirtschaft zur Forderung des eigenen Reaktorbaus

Wie schon erwähnt, hat der Chef des Eidgenössischen Verkehrs- und Energiewirtschaftsdepartements im April 1966 den Vorort des Schweizerischen Handels- und Industrievereins aufgefordert, sich zur Zukunft des schweizerischen Reaktorbaus zu äussern. Bei dieser Gelegenheit wies er darauf hin, dass ein Zusammenschluss der auf diesem Gebiete interessierten Industrien im Hinblick auf die grossen Aufwendungen, welche die Pflege der Reaktortechnik erfordert, ausserordentlich wünschbar erscheint. Eine staatliche Hilfe für die Erstellung von Prototypreaktoren sei, wenn überhaupt, bloss in beschränktem Umfange möglich, so dass sie wahrscheinlich nur für die Erstellung einer einzigen derartigen Anlage ausreichen würde. Im Einvernehmen mit dem Vorort haben es der Verein Schweizerischer Maschinen-Industrieller und insbesondere seine von Herrn Dr. R, Bühler präsidierte Atomkommission übernommen, mit den am Reaktorbau interessierten Unternehmungen entsprechend den Wünschen des Bundesrates die heutige Lage zu prüfen und Lösungen für die Gestaltung der Zukunft auf diesem Gebiete zu finden. Wegen der bestehender» SchwierigBundesblatl. 119. Jahrg. Bd.I.

17

222

keiten konnte innerhalb der verfügbaren Frist keine von den zuständigen Gremien des Vorortes verabschiedete Stellungnahme ausgearbeitet werden. Immerhin liegt heute ein Vorschlag des VSM vor, der die folgenden Punkte umfasst: 1. Der Bund gewährleistet die Fertigstellung und den Betrieb des Atomkraftwerkes Lucens.

Wie bis anhin stellt er das EIR der schweizerischen Industrie für Entwicklungsarbeiten zur Verfügung und beteiligt sich weiterhin am Projekt Dragon.

2. Die schweizerische Industrie wird ihre Projektierungsstudien weiterverfolgen, wobei sie den Bund über das Ausmass ihrer Arbeiten angemessen orientiert.

Soweit die Arbeiten in Zusammenarbeit mit ausländischen Partnern erfolgen, sind hiefür die entsprechenden vertraglichen Abmachungen massgebend.

Der Bund stellt seinerseits der NGA für das Jahr 1967 einen Betrag von maximal 10 Millionen Franken zur Verfügung. Dieser Betrag kann von der Industrie in dem Mass in Anspruch genommen werden, als sie selbst gleich hohe Beiträge leistet.

3. Der VSM wird Ende 1967 zusammen mit den interessierten Industriegruppen die Lage neu überprüfen und mit den Bundesbehörden besprechen.

Grundsätzlich stimmt dieser Vorschlag mit den Plänen der NGA überein.

Auch von Bundesseite aus kann man sich im allgemeinen mit ihm einverstanden erklären.

Hinsichtlich der Fertigstellung und des Betriebes des Atomkraftwerkes Lucens muss aber präzisiert werden, dass es nicht die alleinige Verantwortung des Bundes sein kann, diese zu gewährleisten. Die Anlage in Lucens wurde auf Begehren der Wirtschaft erstellt. Ihr fällt deshalb in erster Linie die Verantwortung zu, dieses Werk zu vollenden und dafür eine sinnvolle Verwendung zu finden. Wir werden auf diesen Punkt im nächsten Abschnitt zurückkommen.

Weiterhin müssen wir feststellen, dass nach dem heute uns bekanntgegebenen Programm für die Ausführung von Entwicklungsarbeiten im Jahre 1967 nicht 10 Millionen Franken benötigt werden. Auf Bundesseite stehen aufgrund der bisherigen Parlamentsbeschlüsse noch etwa 7,5 Millionen Franken zur Finanzierung von Aufwendungen gemäss Punkt 2 des Vorschlages des VSM zur Verfügung. Nach den vorhandenen Unterlagen zu urteilen, sollte diese Summe ausreichen, so dass wir im jetzigen Zeitpunkt davon absehen möchten, dem Parlament zusätzliche Mittel entsprechend den Wünschen des VSM zu beantragen.
Der Vorschlag des VSM stellt wiederum nur eine Übergangslösung dar.

Schon Ende des nächsten Jahres muss deshalb der gesamte Fragenkomplex der schweizerischen Reaktortechnik neu überprüft werden. Zur Rechtfertigung für dieses Vorgehen führt der VSM an, dass im jetzigen Zeitpunkt eine Einigung der beiden an der schweizerischen Reaktorentwicklung interessierten Industriegruppen auf einen einzigen Reaktortyp nicht möglich sei. Jede der genannten Gruppen hegt die Überzeugung, dass der von ihr verfolgte Reaktortyp Chancen

223 hat, die Industriereife zu erreichen und will deshalb nicht darauf verzichten, ihn weiterzuverfolgen. Die Entwicklungsarbeiten sind bis jetzt noch nicht soweit gediehen, dass ein Entscheid zwischen der einen oder anderen Konzeption auf technischer Basis möglich wäre. Andererseits erscheint es dem VSM beim heutigen Stand der Reaktortechnik unerlässlich, dass der weiteren Enwicklung in der Schweiz alle Wege offengehalten werden. Diesem Ziel soll der angeführte Vorschlag dienen.

In der Vergangenheit wurde verschiedentlich, nicht zuletzt auch in unserer Botschaft betreffend weitere Massnahmen zur Förderung der schweizerischen Reaktortechnik vom S.Februar 1966, darauf hingewiesen, dass die schweizerische Reaktortechnik im Rahmen eines längerfristigen Programms gefördert werden sollte. Zur Begründung wurde angeführt, dass nur so die für derartige Anstrengungen notwendigen Einrichtungen und kompetenten Mitarbeiterstäbe aufgebaut und zusammengehalten werden können. In dieser Hinsicht kann die Stellungnahme des VSM nicht ganz befriedigen.

d) Die Verwendung des Versuchs-Kernkraftwerkes Lucens Die Erstellung des Versuchs-Kernkraftwerkes Lucens sollte drei Zwecken dienen : 1. Zunächst wollte man der am Reaktorbau interessierten Industrie Gelegenheit geben, einen Mitarbeiterstab heranzubilden, der über die nötigen Kenntnisse und praktischen Erfahrungen in der Reaktortechnik verfügt. Es sollten gleichzeitig auch die Einrichtungen für die Herstellung von Komponenten für Kernkraftwerke geschaffen werden.

2. Die Elektrizitätswerke zeigten für dieses Vorhaben Interesse im Zusammenhang mit ihren Bedürfnissen für die Ausbildung von Betriebspersonal für die geplanten Kernkraftwerke. Sie glaubten seinerzeit, dass der Betrieb einer derartigen Anlage für sie auch nützlich sei, um Erfahrungen über die besonderen Anforderungen, die der Einsatz von Kernkraftwerken in der Elektrizitätsversorgung stellt, sammeln zu können.

3. Die an einem Schwerwasserreaktor interessierte Industrie hoffte, Lucens als Versuchsanlage bei der Weiterentwicklung dieses Reaktortyps einsetzen zu können. Deshalb wurde der Reaktor so ausgelegt, dass mit ihm relativ leicht verschiedene Brennstoffelemente und Kühlkreisläufe erprobt werden können.

Der erstgenannte Zweck wird mit der Fertigstellung von Lucens auf jeden Fall erreicht. Hinsichtlich
der anderen beiden Zielsetzungen besteht immer noch Ungewissheit. Die NGA konnte uns bis heute noch keine Antwort auf unsere diesbezüglichen Fragen geben.

Wir haben auf jeden Fall den Eindruck, dass das Versuchs-Kernkraftwerk Lucens nur dann sinnvoll weiter eingesetzt werden kann, wenn von verschiedenen Seiten ein Interesse bekundet wird. Der Bundesrat muss es ablehnen, allein die Verantwortung für den Betrieb dieses Werkes zu übernehmen. Wir hoffen, dass

224 sich die beteiligten Kreise in den nächsten Monaten hinsichtlich der weiteren Verwendung der Anlagen nach Abschluss der Erprobung rechtzeitig einigen können. Unsererseits sind wir bereit, die Möglichkeiten einer Mithilfe des Bundes beim Betrieb wohlwollend zu prüfen.

4. Schlussfolgerungen

a) Masmahmen für die Übergangszeit Unter den heutigen Umstanden sind zur Sicherstellung der absolut notwendigen staatlichen Hilfe an die einheimische Reaktortechnik nur in beschränktem Ausmass zusätzliche Massnahmen erforderlich. Wie schon dargelegt, reichen die bisher vom Parlament bewilligten Kredite aus, um die eingegangenen Verpflichtungen und die neuen Vorschläge der Industrie, soweit sie realisierbar sind, zu erfüllen. Da die interessierten Firmen, die sich an und für sich für eine Weiterführung der Untersuchungen des EIR über die dampfgekühlte Variante des schwerwassermoderierten Reaktors ausgesprochen haben, die daraus entstehenden Kosten im Rahmen der NGA nicht mehr mitübernehmen, werden die entsprechenden Studien und Untersuchungen mit den vorhandenen Budgetmitteln des EIR beendet werden müssen. Die begonnenen Arbeiten sollen soweit getrieben werden, dass sief t'ir die Beurteilung dieser Variante des Schwerwasscrreaktors nützliche Informationen bieten können. Hingegen wird es bei den jetzigen Verhältnissen nicht möglich sein, wie ursprünglich geplant, ein vollständiges Vorprojekt zu verfassen, das als Grundlage für den Bau eines Prototyp-Kernkraftwerkes dienen könnte. Im übrigen hat die Direktion des EIR (wie schon im Abschratt l c) erwähnt) den Auftrag erhalten, ein eigenes Programm für den Einsatz des in Würcnlingen vorhandenen Personals und der Einrichtungen auszuarbeiten.

Da es heute feststeht, dass in der Schweiz und im Ausland die Atomenergie in grossem Massstabe für die Elektrizitätsversorgung verwendet werden wird, bestehen für dieses Institut eine ganze Reihe wichtiger Aufgaben, die es unabhängig von den speziellen Planen der Industrie erfüllen kann. Damit eine gewisse Stabilität in der Tätigkeit des EIR erreicht wird, erscheint es uns notwendig, dass entsprechende Fragestellungen in vermehrtem Masse in sein Programm aufgenommen werden.

b) Massnahmen des Bundes auf längere Sicht Solange die Industrie kern langfristiges Programm für ihre Anstrengungen in der Reaktortechnik formuliert hat, ist es uns nicht möglich, dem Parlament die früher in Aussicht gestellte grosse Botschaft über die schweizerische Reaktorentwicklung vorzulegen. Für den Moment kann der Bundesrat nur feststellen, dass er nach wie vor überzeugt ist, dass die Reaktortechnikfür die schweizerische Industrie von
fundamentaler Bedeutung sein wird. Er ist deshalb bereit, dem Parlament die Massnahmen zu beantragen, die notwendig sind, um der schweizerischen Industrie zu helfen, Zugang zu diesem Gebiete zu erhalten.

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Nach Abschluss der gegenwärtigen Zwischenphase, in der zwei Industriegruppen (Sulzer mit Therm-Atom und in Zusammenarbeit mit dem französischen Commissariat à l'énergie atomique, Brown Boveri mit dem Dragon-Unternehmen) je ein Projekt für ein Prototyp-Kernkraftwerk ausarbeiten, wird die Wirtschaft vielleicht als nächsten Schritt das eine oder andere dieser Vorhaben verwirklichenwollen. Eine Gruppe der bedeutendsten schweizerischen Elektrizitätswerke hat sich schon vor einiger Zeit dem Bunde gegenüber schriftlich verpflichtet, ein solches Kraftwerk einheimischer Konzeption, sobald die heute laufenden Entwicklungen soweit gediehen sind, zu bestellen und zu betreiben. Die Werke sind allerdings zur Erfüllung dieses Versprechens nur dann bereit, wenn sie für eine derartige Anlage nicht wesentlich mehr zahlen müssen als für ein ausländisches Kernkraftwerk gleicher Leistung und wenn der Lieferant die üblichen Garantien bezüglich Erfüllung der Spezifikationen und Betriebssicherheit zu bieten imstande ist. Bei einem Prototyp kommt die Planung und Herstellung mancher Komponenten teurer zu stehen als bei der Serieausführung. Bei derartigen mindestens teilweise unerprobten Konstruktionen sind zudem Anfangsschwierigkeiten zu erwarten, deren Behebung recht beträchtliche Kosten verursachen kann. Darüber hinaus muss in solchen Fällen der auftraggebenden Elektrizitätsgesellschaft im Rahmen der Garantieleistungen der wegen des Ausfalles des Werkes entstandene Schaden vergütet werden. Deshalb rechnet man bei Prototyp-Kernkraftwerken mit einem zusätzlichen finanziellen Aufwand, der je nach Grosse der Anlage 100 Millionen Franken um einiges übersteigt.

Ohne die Hilfe des Bundes werden die beteiligten Lieferfirmen eine so grosse Belastung nicht tragen können. Wir sind der Auffassung, dass der Staat in einem solchen Fall eine angemessene Unterstützung nicht versagen kann. Eine derartige Verwendung von Bundesmitteln kann allerdings nur dann vertreten werden, wenn damit der schweizerischen Industrie vielversprechende Zukunftsaussichten eröffnet werden. Es muss also nicht nur ein Träger für ein solches Prototypwerk vorhanden sein, sondern es sollte auch eine gewisse Gewähr dafür bestehen, dass die beteiligten Unternehmen die begonnene Entwicklung bis zur Marktreife (d.h. zur kommerziellen Erstellung von Kernkraftwerken
ohne Staatshilfe) fortsetzen können. Dies erfordert das Zusammenwirken der interessierten Kreise in einer aktionsfähigen Organisation.

Das Ausmass und die Form der Bundesunterstützung wird an Hand konkreter Projekte festgelegt werden müssen. Immerhin kann schon jetzt die Vermutung geäussert werden, dass die aus einer solchen Hilfe resultierende Belastung des Bundes in der Grössenordnung von 100 Millionen Franken sein dürfte. Deshalb erscheint es uns ausgeschlossen, dass mehr als einem Prototyp-Kernkraftwerk eine derartige Hilfe gewährt werden kann.

Der Bund wird auf längere Sicht auf jeden Fall dasEidg. Institut für Reaktorforschung weiter betreiben und seine Einrichtungen den Bedürfnissen anpassen.

Ob dazu noch eine gewisse Hufe an den Betrieb des Versuchs-Kernkraftwerkes Lucens hinzukommt, hängt (wie in Abschnitt 3 d) ausgeführt) von den Plänen der Elektrizitätswirtschaft und der Industrie ab. Es erscheint sodann gegenwärtig vorteilhaft und nützlich, wenn sich der Bund auch in Zukunft an interna-

226

tionalen Gemeinschaftsunternehmen in der Reaktortechnik beteiligt. Die fortschreitende Entwicklung auf diesem Gebiete wird die Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg zunehmend in den Bereich der industriellen Unternehmungen rücken, so dass in den kommenden Jahren eine gewisse Wandlung bei derartigen Verpflichtungen des Bundes nicht ausgeschlossen werden kann.

Die interessierten Kreise beabsichtigen, sich etwa Ende 1967 über das weitere Vorgehen schlüssig zu werden. Erst dann werden wir Ihnen konkrete und detaillierte Vorschläge über die weitere Förderung des schweizerischen Reaktorbaues unterbreiten können. Es ist deshalb nicht damit zu rechnen, dass der Bundesrat vor diesem Datum mit einer Vorlage über die Fortsetzung der schweizerischen Reaktorentwicklung an die eidg. Räte gelangen wird. Die Frage der Finanzierung des Betriebes des Versuchs-Kernkraftwerkes Lucens wird allenfalls aus zeitlichen Gründen früher geregelt werden müssen.

Gestützt auf die vorstehenden Ausführungen beantragen wir Ihnen, vom vorliegenden Bericht zustimmend Kenntnis zu nehmen und die Motion der eidg.

Räte vom 21. Juni/27. September 1966 (Motion Wartmann, Nr. 9439) abzuschreiben.

Genehmigen Sie, Herr Präsident, hochgeehrte Herren, die Versicherung unserer ausgezeichneten Hochachtung.

Bern, den 27. Dezember 1966.

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates, Der Bundespräsident : H. Schaffner

9300

Der Bundeskanzler : Ch.Oser

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend die schweizerische Reaktorpolitik (Vom 27. Dezember 1966)

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1967

Année Anno Band

1

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04

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9604

Numéro d'affaire Numero dell'oggetto Datum

26.01.1967

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