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Schweizerisches Bundesblatt.

29. Jahrgang. I.

Nr. 4.

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27. Januar 1877.

Botschaft des

Bundesrathes an die hohe Bundesversammlung, betreffend die theilweise Revision der Staatsverfassung für den Kanton Aargau.

(Vom 17. Januar 1877.)

Tit.!

Mit Zuschrift vom 27. November abbin machte uns die Regierung des Kantons Aargau die Mittheilung, daß am 20. Februar 1876 eine theilweise Revision der Kantonsverfassung stattgefunden, und daß sodann durch Dekret vom 14. November gleichen Jahres der Große Rath beschlossen habe, diejenigen Vorschriften der Kantonsverfassung formell außer Wirksamkeit zu sezen, welche mit der Bundesverfassung und der Bundesgesezgebung sich im Widerspruche befinden. Auftragsgemäß habe dann die Regierung auf Grundlage dieser Beschlüsse eine neue Ausgabe der Staatsverfassung veranstaltet, wofür nunmehr die Bundes-Gewährleistung nachgesucht werde.

Aus dieser Zuschrift und den beigefügten Belegen ergibt sich folgender Verlauf der Verfassungsrevision im Kanton Aargau : Die gegenwärtige Kantonsverfassung wurde am 22. Februar 1852 im Wege der Totalrevision angenommen, und erhielt unterm 21. Juli gleichen Jahres die Gewährleistung des Bundes (Amtliche Sammlung der Bundesgeseze Band III, Seite 150).

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Seither fanden folgende Aenderungen derselben statt: Am 6. April 1863 eine Revision der §§ 4, 12, 25, 78 und 87 bis 98, von der Bundesversammlung gewährleistet am 23. Juli 1863 (Amtliche Sammlung Band VII, Seite 570).

Am 15. Dezember 1863 eine Revision, beziehungsweise Ergänzung der §§ 2, 28, 40 und 47, von der Bundesversammlung 'gewährleistet am 16. Juli 1864 (Amtliche Sammlung Band VIII, Seite 100).

Ferner wurden am 22. Mai 1867 in Folge Entscheides der Bundesbehörden durch Beschluß des Großen Rathes die Vorschriften betreffend den Vermögensausweis der Mitglieder und Ersazmänner der Gemeinderäthe außer Kraft erklärt und demzufolge der § 81 der Verfassung theilweise außer Wirksamkeit gesezt.

Am 20. Juni 1869 fand sodann noch eine Revision der §§ 57 und 66, in Folge welcher die bisherigen §§ 57, 66, 67 und 68 aufgehoben und die bisherigen §§ 44, 53 und 63 theilweise geändert wurden, und am 24. April 1870 eine Revision der §§ 47", 48 und 71 statt,, durch welche auch der § 2 eine Aenderung erlitt.

; Diese beiden leztern Revisionen erhielten unterm 23. Juli 1870 die Gewährleistung des Bundes (Amtliche Sammlung Band X r Seite 245).

Hieran schließen sich die Partialrevision vom 20. Februar 1876 und die Modifikationen durch das Dekret des Großen Rathes vom 14. November gleichen Jahres an. Sämmtliche Aenderungen, welche die Verfassung in Folge der angeführten Vorgänge bis heute erlitt, wurden in der neuen Ausgabe derselben berüksichtigt.

Was die lezte Revision vom 20. Februar 1876 betrifft, so wurden' dem Volke des Kantons Aargau an diesem Tage in sechs Gruppen Abänderungsvorschläge zu 20 verschiedenen Artikeln der Kantonsverfassung zur Abstimmung vorgelegt. Laut der amtlichen Bekanntmachung der Regierung vom 26. Februar über das Ergebniß dieser Abstimmung nahmen hieran von 41,179 stimmfähigen Bürgern 34,379 Theil. Es wurden jedoch bloß die Gruppe II, Revisionsvorschläge zu den ·§§ 36, 37, 38 und neu § 39, betreffend das Stimmrecht (Artikel 34, 35 und 36 der neuen Ausgabe), und die Gruppe VI, Revisionsvovschlag zu § 89, betreffend die Revision der Verfassung (Artikel 86 der neuen Ausgabe), angenommen, und zwar die Gruppe II mit 19,160 Ja gegen 12,924 Nein (ungültige Stimmen : 2295), und die Gruppe VI mit 18,504 Ja gegen 13,006 Nein (ungültige Stimmen : 2869). Die übrigen Gruppen wurden verworfen.

123 Nach dem Gesagten sind mit Bezug auf die behufs Gewährleistung eingesandte neue Ausgabe der aargauischen Staatsverfassung folgende Unterscheidungen zu machen : I. G r u p p e derjenigen Verfassungsartikel, welche Bestandtheile der früheren Verfassungsgeseze bilden, unverändert geblieben und deßhalb auch unverändert in die neue Ausgabe übergegangen sind.

Da dieselben bereits die Genehmigung des Bundes erhalten haben, so ist auf eine nochmalige materielle Prüfung und Genehmigung nicht einzutreten. Die bjoß formale neue Einreihung und Numerirung der Artikel in der neuen Ausgabe kann dem Bunde vollständig gleichgültig sein.

II. G r u p p e derjenigen Verfassungsartikel, welche in der Volksabstimmung vom 20. Februar 1876 angenommen und somit revidirt wurden. Es sind dies, wie schon erwähnt, die Artikel 34, 35, 36 und 86 in der neuen Ausgabe, wofür die Bundesgenehmigung einzuholen ist.

Was den Inhalt dieser Artikel betrifft, so ist dagegen vom Standpunkte des g e g e n w ä r t i g e n Bundesrechtes aus nicht viel einzuwenden.

Im A r t i k e l 34 wird der Beginn der Stimmberechtigung auf das zurükgelegte 20. Altersjahr (anstatt wie bisher auf das 22. Jahr) gesezt, das Stimmrecht der schweizerischen Niedergelassenen nach Vorschrift der Bundesverfassung anerkannt, und dasjenige der Aufenthalter mit Terminen von 6 Monaten für kantonale Angelegenheiten und von 12 Monaten für Gemeindeangelegenheiten geordnet.

Im Schlußsaze dieses Artikels werden in ,,ortsbürgerlichen11 Angelegenheiten nur die dem betreffenden Ortsbürgerverbande angehörenden Einwohner als stimmberechtigt erklärt, während der Artikel 43, Absaz 4 der Bundesverfassung von ^rein"1 bürgerlichen Angelegenheiten spricht. Wir nehmen jedoch an, daß der Sinn der gleiche sei, und der aargauische Verfassungstext nicht anders als nach dem Wortlaute der Bundesverfassung ausgelegt werden könne.

Im A r t i k e l 35 werden die Bestimmungen über den Ausschluß vom Stimmrecht wörtlich so festgehalten, wie sie die Verfassung von 1852 enthält. Sie gehören somit unter die unveränderten Bestandtheile der Verfassung, und bedürfen als solche keiner erneuerten eidgenössischen Genehmigung. Ihre fernere Gültigkeit wird allerdings eine sehr kurzlebige sein, da nach Artikel 66 der Bundesverfassung die ganze einschlagende Materie der Bundesgesezgebung anheimfällt, und in dem diesfälligen Gesezesentwurf, der die Berathung des einen der eidgenössischen Käthe passirt hat.

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Ausschlußbestimmungen, wie die aargauische Verfassung in der neuesten Umwandlung noch festhält, theils fallen gelassen, theils wesentlich gemildert sind. Nachdem der Artikel 35 Eingangs selbst die Bundesgesezgebung vorbehält, sind wir enthoben, den Vorbehalt unsererseits zu stellen.

Die A r t i k e l 36 und 86 geben zu keinen Bemerkungen Veranlaß ung.

III. G r u p pe: Verfassungsbestimmungen, welche durch Dekret des Großen Käthes vom 14. November 1876, als mit der Bundesverfassung oder Bundesgesezgebung im Widerspruch stehend, entweder ganz außer Kraft erklärt oder theilweise gestrichen wurden.

In die erste Klasse gehören die §§ 22 und 23, in die leztere die §§ 12, 18, 44, 51, 59 und 81 der Verfassung vom 22. Hornung 1852.

Ob dieses etwas theoretische Verfahren des Großen Käthes ganz korrekt sei, könnte man bezweifeln und folgendermaßen räsonniren : Entweder wird ein neuer Verfassungstext geschaffen, und dafür ist die Zustimmung des Volkes nothweudig, oder der bisherige Wortlaut bleibt fortbestehen, und es ist sodann Sache der Vollziehung oder des richterlichen Urtheiles, im Falle des Widerspruches das allgemeine schweizerische Recht und Gesez zur Anwendung zu bringen. Auf lezterm Wege hätte sich der Große Rath erspart, wenigstens dem Scheine nach in Opposition mit dem Volksvotum vom 20. Hornung zu treten, welches die Veränderung einer Anzahl der nunmehr durch Großrathsdekret ausgemerzten Verfassungsbestimmungen ausdrüklich abgelehnt hat.

Gleichwohl glauben wir von Bundes wegen diesen Gedanken nicht weiter verfolgen zu sollen, weil einerseits aus dem Kanton Aargau selbst keine Einsprache gegen das eingeschlagene Verfahren erhoben wird, und weil andererseits der Bund kein Interesse besizt, die formale Ausgleichung zwischen kantonalem und eidgenössischem Rechte und Geseze zu verhindern.

Dagegen hat der Bund nach Artikel 5 der Bundesverfassung die Rech te des Volkes und die verfassungsmäßigen Rechte der Bürger .zu gewährleisten und könnte somit nicht zugeben, daß unter irgend welchem Vorwande Theile einer Verfassung auf inkonstitutionellem Wege unterdrükt würden, wodurch eine Schmälerung der garantirten Hechte eintreten könnte. Von diesem Gesichtspunkte aus steht den Bundesbehörden allerdings das Recht und die Pflicht der Cognition zu, ob und inwieweit hinsichtlich der Bestimmungen, welche das
Großrathsdekret ausgemerzt, sachlich ein Widerspruch mit dem Bundesrechte bestehe und folglich die Beseitigung gerechtfertigt sei.

Nach vorgenommener Vergleichung bejahen wir unbedingt diese Frage. Es ergibt sich nämlich :

125 Die §§ 22 und 23 beschlagen das Militärwesen und die Militärkapitulationen, und sind ersezt durch Artikel 11, 18 bis 22 der Bundesverfassung.

-t Von § 12 (Artikel 12 der neuen Ausgabe) ist der Eingang-- besondere Gewährleistung der katholischen und evangelisch-reformirten Kirche -- weggelassen und auf die Régulation der Glaubensund Gewissensfreiheit durch die Artikel 49 und 50 der Bundesverfassung verwiesen.

Aus den §§51 und 59 (Artikel 50 und 58 der neuen Ausgabe) wird aus dem gleichen Grunde die Vorschrift der Parität bei Besezung des Regierungsrathes und des Obergerichtes beseitigt.

In § 18 (Artikel 18 der neuen Ausgabe) wird der erste Absaz betreffend die Handels- und Gewerbefreiheit, als durch Artikel 31 der Bundesverfassung ersezt, gestrichen.

In § 44, Kompetenzen des Großen Rathes (Artikel 42 der neuen Ausgabe), fallt mit Rüksicht auf das eidgenössische Gesez über Civilstand und Ehe die Litt, d ,,die Ertheilung der Nachsicht vom Ehehinderniß der Schwägerschaft" dahin.

In § 81 endlich (Artikel 78 der neuen Ausgabe) wird die frühere Vorschrift, daß zwei Drittheile der Mitglieder des Gemeinderathes, mit Einschluß des Ammanns, Ortsbürger der Gemeinde sein müssen, ausgemerzt.

Nach diesen kurzen Betrachtungen beantragen wir: 1) den revidirten Artikeln 34, 36 und 86 der neuen Ausgabe der Staatsverfassung für den Kanton Aargau durch die Annahme des nachfolgenden Beschlußentwurfes die Gewährleistung zu ertheilen; 2) von der durch das Dekret des Großen Rathes des Kantons Aargau vom 14. November 1876 angeordneten Bereinigung einer Anzahl weiterer Verfassungsartikel an den Protokollen der beiden eidg. Rätho in gutheißendem Sinne Vormerkung zu nehmen ; 3) sei in eine nochmalige Prüfung und Genehmigung der übrigen Theile der aargauischen Verfassung, mit Einschluß des Artikel 35 der neuen Ausgabe, nicht weiter einzutreten.

Wir benu/.en nebenbei diesen Anlaß, um Sie, Tit., unserer vollkommensten Hochachtung zu versichern.

B e r n , den 17. Januar 1877.

Im Namen des Schweiz. Bundesrathes^ Der Bundespräsident: Dr. J. Heer.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft-.

Schiess.

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(Entwurf)

Bundesbeschluss betreffend

die eidgenössische Gewährleistung der theilweisen Abänderung der Staatsverfassung für den Kanton Aargau vom 20. Februar 1876.

Die B u n d e s v e r s a m m l u n g der schweizerischen Eidgenossenschaft, nach Einsicht eines Berichtes und Antrages des Bundesrathes vom 17. Januar 1877 über die am 20. Februar 1876 erfolgte Revision der §§ 36, 38, 39 (neu) und 89 der Staatsverfassung für den Kanton Aargau vom 22. Februar 1852, beziehungsweise der Artikel 34, 36 und 86 der neuen Ausgabe derselben vom 27. November 1876, in Er w ä g u n g :

daß diese revidirten Artikel in der Abstimmung vom 20. Februar 1876 von der Mehrheit des stimmenden Volkes des Kautons Aargau angenommen worden sind, und daß sie nichts enthalten, was den Vorschriften der Bundesverfassung zuwider wäre, beschließt: 1. Den revidirten Artikeln 34, 36 und 86 der neuen Ausgabe der Staatsverfassung für den Kanton Aargau wird die bundesgemäße Garantie ertheilt.

2. Der Bundesrath wird mit der weitern Vollziehung dieses Beschlusses beauftragt.

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Botschaft des Bundesrathes an die hohe Bundesversammlung, betreffend die theilweise Revision der Staatsverfassung für den Kanton Aargau. (Vom 17. Januar 1877.)

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27.01.1877

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