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Bundesrathsbeschluss in

Sachen Melchior Righi und Philipp Grassi, in Monteggio (Tessin), betreffend Stimmrecht.

(Vom 6. April 1877.)

Der s c h w e i z e r i s c h e B u n d e s r a t h hat

nach angehörtem Berichte seines Justiz- und Polizeidepartements, und nach Einsicht der Akten, woraus sich ergeben : Mit Eingabe an den Bundesrath, datirt Monteggio den 23. Februar 1877, hat ein Joseph Gagliardi, Namens eines M e l c h i o r R i g h i und eines P h i l i p p G r a s s i , wohnhaft in Monteggio, darüber Beschwerde geführt, daß der Große Rath des Kantons Tessin bei Anlaß der lezten Großrathswahlen sie nicht als stimmberechtigt anerkannt habe, obschon der Staatsrath mit Dekret vom 27. März 1872 die Familie Righi und mit Dekret vom 1. April 1875 die Familie Grassi als Tessiner erklärt, und die erstere in die Gemeinde Monteggio und die leztere in die Gemeinde Iseo als Heimatlose eingebürgert habe.

Dieser Eingabe sind Erklärungen der Vorsteherschaften der Gemeinden Mombello (Lago maggiore) und Viconago beigelegt, welche jedoch erst im Februar 1877 ausgestellt worden sind, und darthun, daß die Familie Grassi aus der Gemeinde Mom bello und

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die Familie Righi aus der Gemeinde "Viconago abstammen, aber wegen langer Abwesenheit (seit 1848) dort nicht mehr eingetragen ·und daher auch nicht als Angehörige dieser Gemeinden anerkannt sind.

Der Staatsrath des Kantons Tessin hat jedoch in seinem ausführlichen Berichte vom 22. März abhin dargethan, daß für Philipp Grassi noch ein von dem italienischen Konsul in Lugano am 23. Februar 1873 ausgestellter Paß vorliegt, und daß der Staatsrath von Tessin demselben, gestüzt auf diesen Paß, noch am 19. April 1873 eine bis Ende des Jahres 1876 gültige Niederlassungsbewilligung «rtheilt hat, und daß für Melchior Righi noch ein italienischer Paß vom 3. Februar 1868 vorliegt, gestüzt auf welchen am 29. April 1868 ihm die lezte Niederlassungsbewilligung im Kanton Tessin gegeben wurde. Angesichts dieser Legitimationspapiere behauptet nun der Staatsrath, daß die beiden Familien noch italienische Unterthanen seien, und darum nicht als H e i m a t l o s e haben eingebürgert werden können. Ihre Einbürgerung, gestüzt auf das Heimatlosengesez, sei daher ungültig. Wenn aber diese Familien als I t a l i e n e r die Naturalisation hätten erwerben wollen, so wäre diese noch nicht perfekt, weil hiefür die Genehmigung des Großen Rathes nöthig, diese aber noch nicht erfolgt sei.

Gestüzt auf folgende rechtliche G e s i c h t s p u n k t e : 1) Job. Melchior Righi und seine Familie wurden laut Erklärung der Munizipalität Monteggio vom 29. Februar 1872 in den Bürgerrechtsverband der dortigen Gemeinde aufgenommen und sodann in Anwendung des tessinischen Gesezes vom 11. Dezember 1869 von dem Staatsrathe als tessinische Bürger anerkannt, resp.

naturalisât ; dasselbe geschah bezüglich des Philipp Grassi und seiner Söhne, welche unterm 28. Dezember 1874 von der Gemeinde Iseo in das dortige Bürgerrecht aufgenommen und von dem Staatsrathe als tessinische Bürger durch Beschluß vom 1. April 1875 anerkannt wurden.

2) Bei Anlaß der Prüfung der lezten Großrathswahlen hat der Große Rath den Angehörigen der beiden Familien Righi und Grassi die Qualität als Tessiner, resp. Schweizerbürger, und damit das S t i m m r e c h t abgesprochen, ohne jedoch die Naturalisationsakten von 1872 und 1875 förmlich als ungültig zu erklären und aufzuheben.

3) Ein solches Verfahren steht im Widerspruch mit den Artikeln 44 und 43 der Bundesverfassung. So
lange die erwähnten Naturalisationen formell in Kraft bestehen, müssen die betreffenden Personen als Tessinerbürger behandelt und muß ihnen das Stimmrecht eingeräumt werden.

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4) Dagegen kann allerdings, sei es von der Staatsgewalt, sei es von den Gemeinden, die Rechtsgültigkeit der Naturalisationsakte von 1872 und 1875 angefochten werden. Eine diesfällige Klage ist privatrechtlicher Natur und soll nach Artikel 27 des Bundesgosezes über die Organisation der Bundesrechtspflege bei dem Bundesgerichte angebracht werden. Für den Fall, daß dies geschehen, die Nullität der tessinischen Naturalisationen gerichtlich ausgesprochen, sodann die frühere italienische Staatsangehörigkeit der betreffenden Familien nicht mehr anerkannt und durch die Verkettung dieser Verumständungen Heimatlosenfälle entstehen würden, so behält sich der Bundesrath das Recht vor, von Tessin die erneuerte Einbürgerung der Familien Righi und Grassi zu verangen; beschlossen: 1. Sei der Rekurs im Sinne obiger Erwägungen als begründet erklärt und die Schlußnahme des tessinischen Großen Rathes vom 1. Februar 1877, betreffend das Stimmrecht der Beschwerdeführer, aufgehoben.

2. Sei dieser Beschluß dem Staatsrathe des Kantons Tessin, sowie dem Hrn. Jos. Gagliardi in Monteggio, lezterm zu Händen der beiden Rekurrenten, unter Rükschluß der Akten, zur Kenntniß v.u. bringen.

Bern, den 6. Aprü 1877.

Im Namen des Schweiz. Bundesrathes, Der Bundespräsident: Dr. J. Heer.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Schiess.

Bnndesblatt. 29. Jahrg. Bd. IV.

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IVaclitrag-.

Gegen diesen Entscheid rekurrirte der S t a a t s r a t h des K a n t o n s T e s s.i n an die Bundesversammlung und stellte den Antrag, daß derselbe aufgehoben werden möchte. -- Die Familien Righi und Grassi seien noch mit italienischen Legitimationspapieren versehen, also Italiener. Philipp Grassi habe allerdings im Dezember 1874 von der Gemeinde Iseo ein Zeugniß für das Heimatrecht in dieser Gemeinde erhalten, worauf der damalige Staatsrath unterm 25. Januar 1875 dessen Einschreibung in das Stimmregister der Gemeinde Monteggio verfügt habe, damit er mit seinen Söhnen an den Großrathswahlen vom 21. Februar 1875 Theil nehmen könne. Erst mit Beschluß vom 1. April gleichen Jahres habe der Staatsrath diese Familie im Heimatlosenverfahren in die Gemeinde Iseo eingebürgert, obwohl dieselbe nie dort gewohnt habe. In gleichen Verhältnissen habe sich die Familie Righi befunden, welche in die Gemeinde Monteggio eingebürgert worden sei.

Die zur Verifikation der Wahlen vom 21. Februar 1875 niedergesezte großräthliche Kommission habe ermittelt, daß fünf Personen aus diesen beiden Familien im Kreise Sessa gestimmt haben, und diese Stimmen gestrichen, obwohl sie auf das Ergebniß ohne Einfluß gewesen. Ganz das Gleiche sei auch geschehen anläßlich der Wahl vom 21. Januar 1877.

Die Ansicht des Bundesrathes, daß diese beiden Familien so lange als Schweizer betrachtet werden müssen, bis ihre Naturalisation gerichtlich als unrichtig erklärt worden, sei gefährlich. Die N a t u r a l i s a t i o n im Kanton Tessin könne nur mit Beobachtung von Art. 7 des Gesezes vom 5. Juni 1861, d. h. nur durch den Großen Rath, geschehen. Der Staatsrath sei hiezu inkompetent.

Was dieE i n b ü r g e r u n g im H e i m a t l o s e n v e r f a h r e n betreffe, so sei in der bezüglichen eidgenössischen und kantonalen Gesezgebung vorausgesezt, daß die einzubringenden Personen ihr ursprüngliches Heimatrecht verloren haben. Es liege aber für beide Familien der Beweis für das Gegentheil vor. Der Große Rath sei daher berechtigt gewesen, die Stimmen zu streichen. Durch ein Verfahren, wie es bezüglich dieser beiden Familien eingeschlagen worden, müßten mit Rüksicht auf die Militärdienstpflicht vielfache

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Konflikte mit dem Auslande entstehen ; auch könnte in dieser Weise i:a Zeiten politischer Aufregung ein ungebührlicher Einfluß auf die Wahlen geübt werden.

Uebrigens habe der Große Rath nicht über die Gültigkeit der Naturalisation sich ausgesprochen, sondern darauf sich beschränkt, zu konstatiren, daß die Glieder dieser beiden Familien nicht stimmberechtigt seien. Es sei daher unrichtig, von einem bezüglichen Großrathsbeschlusse zu reden.

Die Gemeindeangehörigkeit, welche Righi und Grassi in dert Gemeinden Monteggio und Iseo erlangt haben, könne sie befähigen, die Naturalisation zu verlangen. Aber so lange sie diese nicht erhalten, bleiben sie Italiener und können daher in der Schweiz die bürgerlichen Rechte nicht ausüben.

Der Repräsentant der Familien Righi und Grassi erhob in seiner Antwort zunächst Einsprache gegen die Zulässigkeit dieses Rekurses, weil derselbe nach 6 x /2 Monaten verspätet sei.

Was die Hauptsache betreffe, so ergebe sich aus den Einbürgerungsbeschlüssen vom 27. März 1872 und vom 1. April 1875, welchen eine einläßliche Untersuchung der Thatsachen vorausgegangen sei, sowie aus den übrigen Akten, daß beide Familien nach Art. 11 des italienischen Civilgesezbuches das italienische Bürgerrecht verloren haben. Melch. Righi sei im Jahr 1836 in den Kanton Tessin gekommen und habe sich dort 1849 mit einer Bürgerin von Monteggio verheiratet. Alle seine Kinder seien im Kanton Tessin geboren. Am 18. März 1856 habe er einen tessinischen Paß erhalten, und die Munizipalität von Monteggio habe in seine Einbürgerung eingewilligt. Phil. Grassi sei zwar erst 1846 nach dem Kanton Tessin gekommen; aber er habe sich ebenfalls mit einer Bürgerin von Monteggio verheiratet. Seine Kinder seien auch im Kanton Tessin geboren, und drei seiner Söhne leisten dort, den Militärdienst. Auch er habe am 31. März 1874 einen tessinisichen Paß, und von der Gemeinde Iseo die Anerkennung als Bürger erhalten. Unter diesen Umständen sei die Einbürgerung sowohl nach dem Bundes-, als nach dem kantonalen Gesez begründet gewesen. Da sie auch von der kompetenten Behörde ausgesprochen, und von keiner Seite angefochten worden, so sei sie in Rechtskraft erwachsen. Erst seit die politischen Kämpfe zum Ausbruch gekommen, wolle man, und zwar auch nur aus politischen Gründen, beide Familien wieder zu Heimatlosen machen. Es sei dieses aber unstatthaft und die Beschwerde des Staatsrathes unbegründet.

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Bundesrathsbeschluss in Sachen Melchior Righi und Philipp Grassi, in Monteggio (Tessin), betreffend Stimmrecht. (Vom 6. April 1877.)

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