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Bundesgesez betreffend

die politischen Rechte der Niedergelassenen und Aufenthalter und den Verlust der politischen Rechte der Schweizerbürger.

(Vom 28. März 1877.)

Die B u n d e s v e r s a m m l u n g der schweizerischen Eidgenossenschaft, in Ausführung von Art- 43, 45, 47, 66 und 74 der Bundesverfassung; nach Einsicht einer Botschaft des Bundesrathes vom 25. Oktober 1876, beschließt:

I. Unterschied zwischen Niederlassung und Aufenthalt und Beurkundung dieser Verhältnisse.

Art. 1. Ein Schweizerbürger, welcher in einer andern O i als seiner Heimatgemeinde festen Wohnsiz nehmen will, hat bei der durch die Kantonalgesezgebung hiefür bezeichneten Stelle nach freier Wahl entweder eine Niederlassungs- oder Aufenthaltsbewilligung nachzusuchen.

895 In folgenden Fällen muß jedoch die Niederlassungsbewilligung nachgesucht werden : a. wenn der Bewerber in der betreffenden Gemeinde Grundeigentum besizt ; b. wenn er ein Gewerbe oder einen Beruf daselbst auf eigene Rechnung betreibt; c. wenn er eine öffentliche Beamtung oder Bedienstung bekleidet oder sich in einer festen Anstellung in einem Privatgeschäfte befindet; d. wenn er einen eigenen Haushalt führt; e. wenn er nach zürükgelegtem 20. Altersjahr länger als ein Jahr am gleichen Orte gewohnt hat.

Studirende, Dienstboten und mit dem Meister im gleichen Haushalt lebende Arbeiter und Gesellen sind jedoch in lezterer Bestimmung nicht inbegriffen.

Den Kantonen bleibt freigestellt, den Unterschied zwischen Aufenthaltern und Niedergelassenen fallen zu lassen und alle mit festem Wohnsize in einer Gemeinde befindlichen Personen als Niedergelassene zu behandeln.

Art. 2. Die Niederlassungs- oder Aufenthaltsbewerber haben auf Verlangen ihren Heimatschein oder eine andere gleichbedeutende Ausweisschrift zu deponiren.

Die Form der Heimatscheine und die für diese zu entrichtenden Gebühren werden durch den Bundesrath in einheitlicher Weise bestimmt. Ebenso wird derselbe diejenigen Ausweisschriften bezeichnen, welche als dem Heimatschein gleichbedeutend anzusehen sind.

Die Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung soll die Bezeichnung der hinterlegten Ausweisschriften enthalten: Art. 3. Die vom Familienhaupte erhobene Niederlassungsbewilligung gilt für die ganze zusammenlebende Haushaltung mit Ausnahme solcher Fanlilienglieder, welche ein Gewerbe oder einen Beruf auf eigene Rechnung betreiben.

Art. 4. Die Niederlassungs- und Aufenthaltsbewilligungen sind auf unbestimmte Zeit zu ertheilen.

896 Es tritt jedoch Erlöschung ein, wenn die Ausweisschrift, auf deren Grundlage die Bewilligung ertheilt .wurde, ausläuft, ohne rechtzeitig erneuert oder durch eine andere erseht zu werden; · '.

Durch diesen Artikel soll denjenigen Polizeimaßnahmen in keiner Weise vorgegriffen werden, welche die Kantone gegen Fremde zu treffen ber echtigt sind.

Art. 5. Die-Kanzleigebühren, welche ein Schweizerburger für die Niederlassungsbewilligung zu entrichten hat, dürfen 2 Franken, und diejenigen für die Aufenthaltsbewilligung 50 Rappen nicht übersteigen. Darin sind alle Kanzleigebühren enthalten, weiche für diese Bewilligungen au den Staat, an Bezirksbeamte und an die Gemeinden, zu entrichten sind.

Obige Gebühren können bei jedem Wechsel der Wohnsizgemeinde erhoben werden.

Art. 6. Die Kantone sind ermächtigt, für den Wechsel des Wohnsizes innerhalb des Kantonsgebietes weitere Erleichterungen eintreten, oder auch jede sachbezügliche Gebühr und Förmlichkeit fallen zu lassen.

Art. 7. Es ist Sache der Kantone, die Fristen zu bezeichnen , innerhalb welcher eine Niederlassungs- oder Aufenthaltsbewilligung nachzusuchen ist, und damit die geeigneten Strafbestimmungen wegen Versäumniß dieser Fristen zu verbinden.

Art. 8. Die Verweigerung der Ausweispapiere an einen handlungsfähigen Schweizerbürger, welcher anderwärts Niederlassung oder Aufenthalt nehmen oder den Wohnort wechseln will, ist; die Fälle militärischen Aufgebots oder strafrechtlicher Verfolgung vorbehalten, unstatthaft.

II. Stimmberechtigung der Niedergelassenen und Aufenthalter.

a. Bei eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen.

Art. 9. Stimmberechtigt bei eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen ist jeder Schweizerbürger, der das

897 zwanzigste Altersjahr zurükgelegt hat und im Uebrigen nicht von der Ausübung des Stimmrechts ausgeschlossen ist.

Im Weitern finden die Bestimmungen der jeweiligen Bundesgesezgebung über die eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen ihre Anwendung.

b. Bei Kantonal- und Gemeinde-Wahlen und Abstimmungen.

Art. 10. Die Stimmberechtigung bei Kantonal- und Gemeinde-Wahlen und Abstimmungen wird durch die Kantone geordnet, jedoch unter Beachtung folgender Grundsäze: 1) Der niedergelassene Schweizerbürger genießt an seinem Wohnsize alle Rechte der Kantonsbürger und mit diesen auch alle Rechte der Gemeindsbürger. Der Mitantheil an Bürger- und Korporationsgütern, sowie das Stimmrecht in rein bürgerlichen Angelegenheiten sind jedoch hie von ausgenommen, es wäre denn, daß die Kantonal-Gesezgebung etwas Anderes bestimmen würde.

In kantonalen Angelegenheiten erwirbt er das Stimmrecht nach einer Niederlassung von drei Monaten im Kantone, in Gemeindeangelegenheiten nach einer Niederlassung von drei Monaten in der betreffenden Gemeinde.

2) Der Aufenthalter hat die gleichen Rechte wie der Niedergelassene. Doch erwirbt er das Stimmrecht in kantonalen Angelegenheiten erst nach einem Aufenthalt von einem Jahr im Kanton, und in Gemeindeangelesenheiten erst nach einem Aufenthalt von einem Jahr ip.

der betreffenden Gemeinde.

3) Bei vorstehenden Fristberechnungen ist das Datum maßgebend, an welchem die Niederlassungs- oder Aufenthalts-Bewilligung bei der zuständigen Behörde,nach-gesucht wurde.

Geht der Aufenthalt in die Niederlassung über, so darf die Frist für die Erwerbung des Stimmrechts in kantonalen und Gemeindeangelegenheiten im Ganzen e i n J a h r nicht überschreiten.

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898 Den Kantonen steht es frei, die vorstehenden Fristen abzukürzen oder ganz aufzuheben.

Ebenso bleibt der Kantonalgesezgebung vorbehalten, zur Verhütung von Mißbrauchen geeignete Vorschriften zu erlassen, speziell zu bestimmen, daß bei einer Wohnsizänderung das Stimmrecht bei bestimmten kantonalen Wahlen während einer gewissen Frist nur in demjenigen Wahlkreise, dum der Stimmberechtigte bisher angehörte, ausgeübt werden könne.

Derartige Vorschriften der Kantonalgesezgebung unterliegen der Genehmigung des Bundesrathes.

Art. 11. Der Ausweis über die Stimm berechtigung wird durch die Vorweisung einer Bescheinigung über das Schweizerbürgerrecht und das 20. Altersjahr, sowie durch die schriftliche Erklärung des Stimmenden geleistet, daß bei ihm die im Art. 12 dieses Gesczes erwähnten Gründe für Ausschluß vom politischen Stimmrechte nicht vorhanden sind.

Für die Abgabe dieser schriftlichen Erklärung wird der Bundesrath ein einheitliches Verfahren fest.sezen.

Es bleibt. der Kantonalgesezgebung freigestellt, diese schriftliche Erklärung des Stimmenden fallen zu lassen.

Wer wissentlich in unberechtigter Weise gestimmt hat, ist der zuständigen Behörde anzuzeigen und wird bei eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen nach den Bestimmungen des Bundesgesezes vom 4. Ilornurig 1853 über das Bundesstrafrecht (A. S. III, 404), bei kantonalen und Gemeindewahlen und Abstimmungen nach den einschlägigen kantonalen Gesezen bestraft.

III. Ansschluss der Schweizerbürger vom politischen Stimmrecht.

Art. 12. Ein Ausschluß der Schweizerbürger vom politischen Stimmrecht darf nur stattfinden: 1) durch kriminelles oder korrektionelles Urtheil; 2) in Folge von Bevormundung wegen Verschwendung, Geisteskrankheit oder Blödsinn;

891» 3) wegen Konkurses bis auf fünf Jahre, durch Urtheil der zuständigen Behörde.

In Fällen besonders schwerer Verschuldung- kann diese Frist bis auf zehn Jahre ausgedehnt Werden. Bei unverschuldetem Konkurse findet eine Einstellung im Stimmrechte nicht statt.

4) wegen öffentlicher Almosengenössigkeit, so lange dieselbe dauert.

Es bleibt der Kantonalgesezgebung freigestellt, die unter Ziffer 3 und 4 erwähnten Beschränkungen im Stimmrechte fallen zu lassen.

IY. Schluss- und Uebergangsbestimmungen.

Art. 13. Alle mit diesem Geseze im Widerspruch stehenden Bestimmungen der eidgenössischen und kantonalen Gesezgebung sind aufgehoben; insbesondere treten außer Kraft: 1) das Bundesgesez Über die Dauer und die Kosten der Niederlassungsbewilligung vom 10. Christmonat 184!)

(A. Samml. Bd. I, S. 271); 2) das Konkordat über die Form der Heimatscheine auf Grundlage der Konferenzbesch lusse vom 28. Jänner 1854 (A. Samml. Bd. IV, S. 357) ; 3) der Artikel 6 des Bundesgesezes vom 23. Dezember 185t über die politischen und polizeilichen Garantien zu Gunsten der Eidgenossenschaft (III, 33 ).

Diejenigen Schweizerbürger, weiche vor dem Inkrafttreten dieses Gesezes in Konkurs gefallen sind, treten wieder in ihre Stimmberechtigung ein, sobald seit der Konkurseröffnung fünf Jahre verflossen sind. Auf Begehren des Konkursiten soll bei geringerer Verschuldung diese Frist durch Urtheil der zuständigen Behörde abgekürzt und bei unverschuldetem Konkurs durch ein solches die Beschränkung des Stimmrechts sofort aufgehoben werden.

Ebenso treten alle übrigen vor dem Inkrafttreten dieses Gesezes erfolgten Beschränkungen des politischen StimmBundesblatt. 29. Jahrg. Bd. II.

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900 rechts, soweit sie mit den Bestimmungen des Art. 12 im Widerspruch stehen, außer Wirksamkeit.

Art. 14. Der Bundesrath wird beauftragt, auf Grundlage der Bestimmungen des Bundesgesezes vom 17. Brachmonat 1874, betreffend die Volksabstimmung über Bundesgeseze und Bundesbeschlüsse, die Bekanntmachung dieses Gesezes zu veranstalten und den Beginn der Wirksamkeit desselben festzusezen.

Also beschlossen vom Nationalrathe, B e r n , den'28. März 1877.

Der Präsident: Aepli.

Der Protokollführer: SchieSS.

Also beschlossen vom Ständerathe, B e r n , den 28. März 1877.

Der Präsident: Nagel.

Der Protokollführe::: J. L. Lutscher.

Der schweizerische Bundesrath beschließt: Aufnahme des vorstehenden Bundesbeschlusses in das Bundesblatt.

Bern, den 30. Mai 1877.

Der Vizepräsident des Bundesrathes : Schenk.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: SchieSS.

N o t e . Datum der Publikation: 2. Juni 1877.

Ablauf der Einspruchsfrist: 31. August 1877.

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Bundesgesez betreffend die politischen Rechte der Niedergelassenen und Aufenthalter und den Verlust der politischen Rechte der Schweizerbürger. (Vom 28. März 1877.)

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1877

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02.06.1877

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894-900

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