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Bericht der

Kommission des Ständeraths betreffend den Gesezentwurf über die politischen Rechte der Niedergelassenen und Aufenthalter und den Verlust der politischen Rechte der Schweizerbürger.

(Vom 3. März 1877).

Tit.!

Der Artikel 47 der Bundesverfassung schreibt vor : .,,Ein Bundesgesez wird don Unterschied zwischen Niederlassung und Aufenthalt bestimmen und dabei gleichzeitig über die politischen und bürgerlichen Rechte der schweizerischen Aufenthalter die nähern Vorschriften aufstellen.a In Ausführung dieses Artikels hatten die eidgenössischen Räthe in ihrer Session vom Dezember 1874, ein G es e z über das S ti in m.r e c h t der S c h w e i z e r b ü r g e r angenommen. Unterin 23. Mai 1875 der verfassungsmäßigen Probe, dem Referendum, unterstellt, wurde dieses Gesez von 207,263 Bürgern verworfen, gegen 202,583 annehmende, also mit einer Mehrheit von 4680 Stimmen.

Wir wollen nicht, allen Beweggründen nachspüren, welche zu dieser Verwerfung geführt haben, sondern uns darauf beschränken daran zu erinnern, daß, der allgemeinen Meinung zufolge, diese Verwerfung durch folgende zwei Hauptgründe verursacht worden ist: einem Theile der Bevölkerung, besonders in der deutschen Schweiz, war das Gesez zu freisinnig in Bezug auf die Ausübung der politischen Rechte, und dagegen einem andern Theile, nament

752 lieh in der romanischen Schweiz, war es umgekehrt nicht freisinnig genug und zu weit gehend in der Ausschließung von den politischen Rechton.

Ein anderer dorn Geseze gemachter Vorwurf ging dahin, dasselbe stimme nicht hinlänglich" mit dem Wortlaute des Art. 47 der O Bundesverfassung überein, indem es nämlich keine Bestimmung im Sinne einer klaren, präeisen Festsezung des Unterschiedes zwischen Niederlassung und Aufenthalt enthalte und auch gänzliches Stillschweigen über die Frage der zivilrechtlichen Vorhältnisse dor schweizerischen Aufenthalter beobachte.

Mit Ruksicht auf die klare Vorschrift des Art. 47, welche das betreffende (lésez nicht als ein bloß fakultatives, sondern als ein notwendigerweise zu erlassendes bezeichnet, hat der Bundesrath, nach der Volksabstimmung vom 23. Mai 1875, nicht gezögert, seine Aufmerksamkeit neuerdings auf diesen Gegenstand hinzulenken und ihn neuen Berathungen zu unterwerfen. Bei dieser Prüfung hat er sich dann überzeugt, daß, da die politischen Rechte und die civilrechtlichen Verhältnisse wesentlich verschiedener Natur sind, diese Materien in zwei gesonderten Gesezen behandelt werden müssen, daß dagegen mit Ruksicht auf die Connexität die immerhin zwischen denselben besteht, die beiden Gesezentwürfe wenigstens g l e i c h z e i t i g der Bundesversammlung vorzulegen seien.

So ist es gekommen, daß die Mitglieder der Bundesversammlung nun die beiden wichtigen Gesezentwürfe in Händen haben, welche bereits auf den Traktanden der lezten Dezembersession figurirten und neuerdings auf der Liste gegenwärtiger Session stehen.

Gemäß einer Verständigung, welche, nachdem dor Ständerath in der lezten Dezembersession die Berathung der beiden Gesezentwürfe auf eine Frühlingsssession verschoben hatte, die Kommission getroffen, hat sich dieselbe im Laufe des Monats Februar versammelt und dann der Prüfung der beiden Entwürfe alle die Sorgfalt gewidmet, welche sie verdienen. Zur Grundlage ihrer Arbeit nahm sie die Entwürfe des Bundesrathes, sowie dieSchlussnahmenu des Nationalrathes. Sie gelangte zu mehreren Abänderungen von einiger Wichtigkeit, welche bei der artikelweisen Beraubung zur Besprechung kommen sollen und von denen Sie durch die gedrukausgetheilteen AnträgKenntnissiß nehmen können.

Beim Gesezentwurf über die politischen Rechte werden Sie bemerken, daß der Entwurf
des Bundesrathes die Materien in Abschnitte mit besonderen Ueberschriften eintheilt. Die diesfälligen vier Abschnitte sind wie folgt betitelt: I. Unterschied zwischen Nieder-

753 lassung und Aufenthalt; II. Stimmberechtigung der Niedergelassenen und Aufenthalter; III. Ausschluß der Schweizerbürger vom politischen Stimmrecht;7 IV. Schluß- und Uebergangsbestimmungen.

ö O O Der Nationalrath hat die Eintheilung in Abschnitte und die daherigen Kapitelüberschriften weggelassen. Ihre Kommission hat sich die Frage gestellt, ob sie dieser Weglassung zustimmen solle.

Ueber die Gründe derselben hat sie in der Tagespresse keine Angaben gefunden; sie glaubt aber, sich nicht zu täuschen, wenn sie annimmt, der Hauptgrund sei der geringe Umfang des Ge.se/.es, welches, in der That nicht mehr als 15 Artikel enthält. Wahrscheinlich hat man gefunden: ein Gesez mit so beschränkter Paragraphenzahl in 4 Abschnitte einzuteilen, hieße eine zu weit gehende und unnöthige Zersplitterung begehen.

Trozdem hiefür Einiges sprechen mag, kann Ihre Kommission doch die im Nation»lrathe zur Geltung gelangte Auffassung nicht theilen Sie hat gefunden, daß es sich da um eines der wichtigsten Geseze, dessen Materien ziemlich schwieriger Natur sind, handelt; daß eine große Zahl von Bürgern aus allen Gesellschaftsklassen häutig in den Fall kommen könnten, dieses Gesez zu konsultiren und daß es daher gerathen scheine, Jedem, der sich im Geseze orientiren will, dieß möglichst zu erleichtern, wozu aber die vom Bundesrathe beantragte Eintheilung gewiß geeignet erscheint. Zudem kommen in dem Geseze ziemlich verschiedene Materien vor.

.So handeln die ersten Artikel von der Verpflichtung jedes in einem andern als seinem Heimatkantono Wohnsiz nehmenden Schweizers, pich eine Niederlassungs- oder Aufenthaltsbewilligung zu verschaffen; von dem Unterschiede zwischen Niederlassung und Aufenthalt, sowohl in Bezug auf die Ausübung der politischen Rechte, als in Bezug auf die zur Erlangung einer Bewilligung zu erfüllenden Förmlichkeiten ; von den Bedingungen, die erfüllt sein müssen, wenn Einer Niedergelassener oder Aufenthalter werden will ; von der Dauer dieser verschiedenen Bewilligungen und von den zu bezahlenden Gebühren.

Diese Artikel bilden im Entwurfe des Bundesrathes den Inhalt des I.Abschnittes, betitelt: Unterschied zwischen Niederlassung und Aufenthalt. Die folgenden Artikel handeln von dem Stimmrechte der schweizerischen Niedergelassenen und Aufenthalter, und es unterscheidet das Gesez zwischen Stimmberechtigung
bei eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen und Slimmberechtigung bei kantonalen und kommunalen Abstimmungen. Diesem entspricht der Titel des II. Abschnittes, der in 2 Sektionen zerfällt.

Der Art. 13 befaßt sich mit dem Ausschluß vom politischen Stimmrecht und bildet einen 111. Abschnitt. Man könnte allfällig

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diesen Artikel mit dem II. Abschnitt verschmolzen. Indessen bietet gerade der Titel dieses Kapitels IH den Vortheil, sofort die Aufmerksamkeit derjenigen auf sich zu ziehen, welche wünschen, die einschlägigen Bestimmungen' des Gesezes zu kennen. Die beiden lezten Artikel endlich bilden den Abschnitt: Schluß- und Uebergangsbestimmungen.

Ihre Kommission beantragt Ihnen einstimmig die Wiederherstellung der im bundesräthlichen Entwurfe figurirenden Kapitelüberschriften.

Der Art. l hat irn Schöße der Kommission zu ziemlich langen Diskussionen Anlaß gegeben.

Zunächst ist zu bemerken, daß der Nationalrath ziemlich bedeutende Abänderungen an diesem Artikel vorgenommen hat. Sodann hat er außer beim Art. l auch beim Art. 2 die Redaktionmodifizirt..

Ihre Kommission beantragt Ihnen, die beiden ersten Artikel des bundesräthlichen Entwurfs gesondert beizubehalten. Sie geht aber noch weiter und schlägt Ihnen beim Art. l eine Redaktion vor, welche sowohl von der bundesräthlichen als von der nationalräthlichen wesentlich abweicht. Durch unsere Redaktion werden mehr oder weniger die G r u n d l a g e n des Entwurfs modifizirt.

Ihre Kommission ging bei diesem Abänderungsantrag von folgenden Gründen aus: Erstens. Wenn man sich die Diskussionen vergegenwärtigt, welche in den gesezgebenden Räthen über die Bestimmungen der Art. 45, 46 und 47 über das Niederlassungsrecht stattgefunden haben, so wird man sich erinnern, daß das allgemein gefühlte Bedürfniss in die Verfassung Bestimmungen niederzulegen, welche allen Sehweizerbürgern das Recht gewährleisten, sich überall in der Schweiz niederzulassen, -- nicht nur Bezug hatte auf die in ihrem Heimatkantone,, sondern auch auf die in anderen Kantonen Niedergelassenen. Die erstem waren, ausgenommen vielleicht einige durchaus vereinzelt gebliebene Fälle, niemals in der Lage, sich über Weigerungen, da oder dort im Kantone sich niederzulassen, beklagen zu müssen. Die Mißbräuche seitens kantonaler Gesezgebungen und kantonaler, namentlich aber kommunaler Behörden betrafen fast ausschließlich Bürger aus andern Kantonen. In dieser Beziehung ist gewiß, daß der freien Niederlassung der Schweizer in ihrem Vaterlande zahlreiche Hindernisse verschiedener Natur entgegengestellt wurden. Den Einen wurde die Niederlassung oder der Aufenthalt absolut verweigert, und zwar aus unstatthaften Gründen; Andern wurden lästige und oft kostspielige Förmlichkeiten auferlegt.

75,') Anderseits gab es und gibt es noch jezt in den verschiedenen kantonalen Gesezgebungen bedeutende Abweichungen von einander.

Dieß sind, wie ich glaube sagen zu dürfen, die wesentlichen, um nicht zu sagen die einzigen Gründe der Aufnahme der Artikel 45, 46 und 47 in die Bundesverfassung Wenn dem so ist. so erhellt daraus, daß dus im Art. 47 vorgesehene Gesez, und zwar nach den Intentionen der Urheber der Bundesverfassung selbst, nur Bezug haben sollte auf die in einem andern als im Niederlassungskanton wohnhaften Schweizer.

Wenn also der Art. l so redigili wird, wie es vom Bundesrathe und vom Nationalrathe geschieht, so wird der Verfassung eine extensive Auslegung gegeben und über das hinausgegangen, was sie gewollt hat.

Die Kommission glaubt daher genauer auf dem Verfassungsboden, den wir alle zu respektiren pflichtig sind, zu verbleiben, indem sie Ihnen die von ihr formulirte Redaktion vorschlägt.

Ein anderer Grund ist der folgende: Es ist sehr begreiflich, daß man von jedem Schweizer, der in einem andern als seinem Heimatkanton Wohnsiz nehmen will, verlangt, daß er sich über seine Identität ausweise und sich gewissen Förmlichkeiten unterziehe, welche für den Kantonsbürger nicht so nothwendig erscheinen.

Der Kantonsbürger wird leicht erkannt. Waltet der geringste Zweifel, sei es über seine Identität, sei es über seine Anteeddenzien seine Moralität, seinen Civilstand, so sind Informationen leicht. ländlich, wenn er sich übel aufführt, so behält er nichts desto weniger das Recht, in seinem Kantone zu bleiben.

Anders verhält es sieh mit dem Schweizer, der einem andern Kantone angehört. Seine Identität ist nicht so leicht festzusezen.

Sodann: wenn die Bundesverfassung ihm grundsätzlich wohl das Recht gewährleistet, sich an jedem beliebigen Orte in der Schweiz niederzulassen, so sieht sie doch Fälle vor, in welchen ihm dieses Recht entzogen werden kann. Dieß wird durch die Alinea 2, 3 und 4 des Art. 45 bestimmt. Um diese Beschränkungen anwenden zu können, muß die Kantonsbehörde jederzeit wissen, an welchem Orte, in welcher Gemeinde des Kantons er wohnt, und was die Vollziehung des Niederlassungsentzugs betrifft, so ist diese leicht gemacht durch die Zurükziehung der ertheilten Bewilligung.

Ein lezter Grund, der Ihre Kommission geleitet hat, ist folgender:

756 In nichrern oder vielmehr in den meisten Kantonen können die Bürger des Kantons sich in allen Gemeinden desselben beliebig niederlassen, ohne zur Einholung einer Niederlassungs- oder Aufenthaltsbewilligung gehalten zu sein. Würde man nun aber die vom Bundesrathe oder die vom Nationalrathe beantragte Redaktion von Art. l annehmen, so hätte dieß zur Folge, daß die Bürger der betreffenden Kantone sich genöthigt sähen, auch ihrerseits Niederlassungs- oder Aufcnthaltsbewilligungen zu nehmen, d. h. daß diesen Kantonen eine minder freisinnige Gesezgebuug auferlegt würde, als diejenige, an welche sie seit Langem gewohnt sind. Und doch müssen wir im Gegentheile suchen, in unserem Vatcrlaude die Grundsäze individueller Freiheit immer mehr auszudehnen, statt sie zu beschranken, und es wäre besser, die Verpflichtung, Niederlassuugs- oder Aufenthaltsbewilligungen zu nehmen, für Jedermann aufzuheben, als sie noch auf die im eigenen Heimatkanton wohnenden Bürger auszudehnen.

Hieran knüpft sich dann noch eine lezte Erwägung. Es ist lebhaft zu wünschen, daß das uns hier beschäftigende Gesez beim Schweizervolke eine bessere Aufnahme finde als das frühere. Nun ist es ganz gewiß, daß eine solche Bestimmung wie die vom Bundesrathe und vom Nationalrathe angenommene Bestimmung in mehrern Kantonen das neue Gesez so unpopulär machen würde, daß dasselbe mit gr großer Wahrscheinlichkeit wie das erste verworfen werden dürfte.

Dieß sind die Gründe, auf welche gestüzt Ihre Kommission Ihnen die neue Redaktion beantragt, die Sie dem ausgetheilten Drukbogen entnehmen. Die Kommission glaubt jedoch diesen Antrag' mit einem Vorbehalte begleiten zu sollen, welcher sich an der Spize des 2. Alinea des Artikels findet. Der Grund für diesen Vorbehalt ist folgender: Wiewohl im Allgemeinen die Niederlassung eines Schweizerbürgers in seinem Heimatkanton auf keine Schwierigkeiten stößt, so werden doch einzelne Fälle angeführt, wo, abweichend hievon, einem Bürger die Niederlassung außer seiner Heimatgemeinde im eigenen Kanton erschwert wurde, so unter Anderm in einigen Kantonen mit Ortsarmenpflege. Wenn eine Familie aus dem eigenen Kanton, sich in gewissen Gemeinden desselben für die Niederlassung meldet und die Lokalbehörden Gründe zu der Befürchtung zu haben glauben, daß jene Familie dem öffentlichen Gemeinwesen oder der Gemeindekasse zur Last fallen könnte, so werden derselben -- so wird bemerkt -- zahllose Schwierigkeiten in den Weg gelegt. Dieß

757 ist aber unstatthaft, und um solches zu verhindern, wurde in der Kommission der betreffende Vorbehalt angebracht, der eine Mehrheit O J

auf sich vereinigte.

Die weitere Berichterstattung; wird bei der artikelweisen Berathun je au geeigneter Stelle mündlich eintreten.

B e r n , den 3. März 1877.

Im Namen der ständeräthlichen Kommission: Der B e r i c h t e r s t a t t e r :

Estoppey.

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Bericht der Kommission des Ständeraths betreffend den Gesezentwurf über die politischen Rechte der Niedergelassenen und Aufenthalter und den Verlust der politischen Rechte der Schweizerbürger. (Vom 3. März 1877).

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19.05.1877

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