#ST#

Schweizerisches

ndesblött.

Jahrgang III.

Nro.

Band III.

55*

Samstag, den 25. Oktober 1851.

Man abonnirt ausschließlich beim nächstgelegenen Postamt. Preis für das Jahr 1851 im ganzen Umfange der Schweiz p o r t o f r e i Frkn. 3.

Jnferate sind f r a n k i r t an die Expedition einzusenden. Gebühr! Batzen per Zeile oder deren Raum.

#ST#

Bericht der

von der Bundesversammlung niedergesezten Kom mission, betreffend den Konflikt zwischen Aargau und Uri, hinsichtlich des Heimathrechte der Johanna Walter (Vom 2. August 1851.)

Species facli.

Eine Elisabeth Walker von Wasen, Kantons Uri,

gebar am 8. November 1842 in Hendschikon, Bezirk Lenzburg, Kantons Aargau, ein Mädchen, welchem in der Taufe den 13. November 1842 der Name "Johanna" beigelegt wurde.

Hinsichtlich dieses Kindes schloß nach dessen GeburtX a v e r G r o b von Eham, Kantons Zug, damals Wirth an der neuen Bruke in Aarau, mit der Wittwe Anna Zobrist, Hebamme, von Hendfchikon, einen Kostgeldsvertrag.

Bundesbiatt. Jahrg. III. Bd. III.

23

184 Der gleiche X a v e r Grob schloß im Jahr 1843 mit

der Gemeinde Alliswyl, Bezirks Lenzburg, einen Vertrag, mittelst welchem er das Kind ,,Johanna Walker" in das Bürgerrecht dieser Gemeinde einkanste.

Ein Heimathschein wurde in Folge dessen an den Gemeinderath von Alliswyl ausgestellt, der jedoch bloß

Sigill und Unterschrift dieses Gemeinderaths, nicht aber diejenige des Bezirksamts und der Staatskanzlei auf sich trägt.

Bis zum Jahr 1848 erfolgte nichts weiters.

Jm leztgedachten Jahre erhielt das Bezirksamt von Lenzburg von jener Einbürgerung Kenntniß. Dieser und anderer Handlungen wegen wurde einestrasrechtlicheUnterfuchung gegen die Mitglieder des Gemeinderaths von Alliswyl eingeleitet, welche bezüglich des Kindes "Johanna Walker" im Jahr 1849 laut Spruch des Bezirksgerichts Lenzburg und des Obergerichts des Kantons Aargau damit endete :

1) daß die stattgefundene Einbürgerung des Kindes Johanna Walker zu Alliswyl als ungültig aufgehoben werde;

2) die Gemeinde Alliswyl habe dafür zu sorgen, .daß, salls das Kind im Kanton Uri nicht mehr angenommen werden sollte, dasselbe anderswo aus gesezliche Weise eingebürgert werde, und sei sür alle daherigen Kosten verantwortlich erklärt;

3) die für dessen Einbürgerung in Alliswyl empfangene Summe von Fr. 300 habe alt-Ammann Sl. Scheub dahin abzuliefern, wo das Kind später eingebürgert werden wird; 4) daneben würden die Mitglieder des Gemcinderathes von Alliswyl mit Gelbbußen belegt.

185 Der Spruch gründete sich darauf, daß bei der Einbürgerung der Johanna Walker die gefezlichen VorschrifJen nicht beobachtet und derselben nie das Kantonsbürgerrecht durch ein großräthliches Dekret ertheilt worden sei.

Jm Laufe der Untersuchung erklärte der einvernommene und seither vergeldstagte Xaver Grob : die Elisabeth Walker habe ihm die Vaterschaft zugemuthet, er glaube aber nicht Vater zu sein; damit jedoch kein Aussehen entstehe, habe er sich dazu verstanden, dem Kind ein Heimathrecht zu verschassen und Kostgeld für dasselbe zn bezahlen.

Die Gemeinde Alliswyl wendete sich an den Kleinen Rath des Kantons Aargau, stellte vor: die Johanna Walker müsse ihres Heimathrechts halber der Mutter nothwendig folgen und besize alfo ihr Heimathrecht im Kanton Uri. Wenn Uri diefes nicht anerkennen wolle, so gehöre die Sache an das eidgenöfsifche Recht.

Der Kleine Rath des Kantons Aargau gelangte mit einem Schreiben (d. d. 2. April 1850) an die Regierung des Standes Uri, gab derselben Kenntniß von der Sache, mit der Bemerkung, daß, da die Erzeuger des betreffenden Kindes Bürger anderer Kantone feien, so könne dasselbe keinen Anspruch aus das Bürgerrecht im Kanton Aargau besizen. Das Verlangen wurde dahin gestellt, daß die Regierung von Uri die Gemeinde Wafen zur Aufnahme des von der Elisabeth Walker außerehelich gebornen Kindes anhalte.

Die Regierung von Uri antwortete (18. April 1850): der angebliche Vater des unehelichen Kindes fei ein An= gehöriger des Kantons Zng, wo der Paternitätsgrundsaz gelte, dort möge also eine Vaterfchaftsklage gestellt werden. Ueber sie sei bis jezt nie eine Anzeige an die Urner* schen Behörden gemacht worden, sondern die Gemeinde Alliswyl habe das Kind in das Bürgerrecht aufgenommen.

186 Hierauf formulirte (August 1850)

der Stand Aargau

eine Rechtsklage gegen den Stand Uri, mit dem Rechtsschlusse: ,,Die Regierung des hohen Standes Uri fei zu verfallen, das von Elifabeth Walker von Wafen am 8.

November 1842 geborne, am 13. gleichen Monats auf den Namen "Johanna" getaufte uneheliche Kind als Angehörige des Kantons Uri anzuerkennen."

Der schweizerische Bundesrath überwies die Klage dem Bundesgericht und dieselbe wurde der Regierung von Uri kommunizirt.

Die Leztere in ihrer Antwort (Oktober 1850) auf die Klage bediente sich zuvoderst der Einrede: es sei das Bundesgericht nicht kompetent in der Sache zu urtheilen.

Da zur Zeit der Abfassung der Antwort angenommen werden mußte, es werde gemeinrechtlichen Grundsäzen gemäß das Bundesgericht die Kompetenzfrage selbst benrtheilen, so wurde mit der sorideklinatorischen Einrede eventuell die einlässige Antwort verbunden, deren Schluß dahin ging: es sei die von der hohen Regierung von Aargau gegen die hohe Regierung von Uri gestellte Klage, puncto Anerkennung eines Kindes, negativ zu entscheiden.

Bevor weiter eine Verfügung erfolgte, erschien das proviforifche Gesez über das Verfahren bei dem Bundesgerichte in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten, dessen Art. 93 bestimmt, daß im Falle eines Kompetenzstreites die Akten dem Kläger zurükgestellt und ihm überlassen wird, den Entscheid der Bundesversammlung anzurufen.

Da Uri sich eventuell auf die Klage eingelassen hatte, so stellte der Präsident des Bundesgerichts an die dasige Regierung die Anfrage, ob sie auf ihrer forideklinatorifchen Einrede beharren und also die Kompetenzfrage vor allem aus entfchieden wissen wolle.

IST Da eine bejahende Antwort erfolgte, fo mußten die Akten laut Art. 93 des Gefezes über das Verfahren vor

dem Bundesgerichte dem klagenden Theile zurükgestellt werden.

Nunmehr gelangt die Sache an die Bundesverfammlung zur Entscheidung der Frage: ob das fchweizerifche Bundesgericht in vorwaltender Streitfache kompetent fei oder nicht?

Uri führt für seine Behauptung der Inkompetenz folgende Gründe an: 1) Das fragliche Kind, da es in die Gemeinde Alliswyl eingebürgert und demselben ein förmlicher Heimathschein ausgestellt wurde, sei nicht h e im a th l o s. Wenn auch die Bürgerrechtsertheilung annullirt würde, so sei durch gerichtliches Urtheil der Gemeinde Alliswyl die

sserpflichtung auferlegt, die Einbürgerung des Kindes irgendwo zu bewerkstelligen. Für das Bürgerrecht des Kindes fei alfo geforgt.

2) Der Streit stelle sich als ein solcher zwischen zwei Gemeinden und nicht zwischen zwei Kantonen dar.

Die Regierung von Aargau erscheine bei demselben nur als

Stellvertreterin der Gemeinde Alliswyl. Es handle sich um eine bloße Kindeszusprechung und die Sache gehöre daher vor die Kantonalgerichte von Uri.

A a r g a u erwidert: 1) Das Kind ,,Johanna Walker" sei allerdings heimathlos. Das e r w o r b e n e Heimathrecht desselben sei durch die zuständigen Gerichte annullirt. Das a n g e b o r n e Heimathrecht desselben werde nicht anerkennt, und das Kind sei also so lange heimathlos, bis irgendwo die Aner-

kennung desselben bewirkt sei. Die der Gemeinde Allis-

vvyl uberbundene Pflicht sei nur eine eventuelle und vorsorgliche, die erst dann in Wirksamkeit trete, wenn der

188 Stand Uri von der Pflicht zur Anerkennung des Kindes befreit würde.

2) Es fei der vorwaltende Streit nicht bloß ein folcher zwischen zwei Gemeinden und handle sich auch nicht um einen gerichtlichen Kindeszuspruch, sondern zunächst um die Aufnahme eines Kindes in den Kantonalverland, um

Ausmittlung der Kantonshörigkeit, wobei jede Regierung die Interessen ihres Kantons zu vertreten habe, und dabei als betheiligt erscheine, zumal die Erwerbung eines Ortsbürgerrechts durch die Erwerbung des Kantonsbürgerrechts bedingt sei.

Das sind in gedrängter Kürze die in den Akten weitläufiger auseinandergesezten Gründe beidseitiger Theile.

Erörterung.

Die Kommission will .sich bei der Frage, ob das Kind ,,Johanna Walker'' als heimathlos zu betrachten sei, nicht lange aufhalten, indem wenn sich der Streit als ein folcher zwischen zwei Kantonen darstellt, eine Erörterung über die Heimathlosigkeit überflüssig ist, abgesehen von Ziffer 3 des Art. 101 der Bundesverfassung, welcher von der ..peimathlosigkeit handelt, laut Ziffer 1 Litt. a. des alle-

girten Artikels die Entscheidung dem Bundesgericht anheim fällt. Die Kommission beschäftigt sich daher vorzugsweise mit der Frage, ob wirklich ein Streit zwischen zwei Kantonen vorliege.

Wenn die Mutter des fraglichen Kindes eine Bürgerin des Kantons Aargau wäre, und es wollte ein Bürger des Kantons Uri als Vater, wnd in Folge dessen ein Heimathrecht im leztgedachten Kantone für das Kind in Anfprnch genommen werden, denn gestaltete sich die Sache 3u einem Paternitätsprozesse, in welchem unzweifelhaft die

189 ^aternitätsklägerin vor den Gerichten des Kantons Uri aufzutreten hätte.

Möchte in diesem Falle Aargau der Sache welche Wendung und Anschein nur immer geben und klagend gegen Uri auftreten, es würde keinen Entscheid des Bundesgerichts in der Materie der Sache herbeizuführen vermögen. Wenn auch der Streit an das Bundesgericht gelangte, so. wäre dieses im Falle, denselben an die Urnerschen Gerichte zu weisen.

Allein als ein solcher Paternitätsstreit stellt sich der vorliegende nicht dar. Das Kind "Johanna Walker" ist nicht das Kind einer .aargauischen Bürgerin, für welches

ein Vater in Uri gesucht wird. Dasselbe ist gemäß der Behauptung des Standes Aargau das Kind einer Urnerschen Bürgerin ohne rechtlich bekannten Vater.

Der Klageschluß von Aargau lautet dahin: daß Uri angehalten werden solle, das fragliche Kind als Angehöriges dem Kanton Uri anzuerkennen, und der eventuelle Gegenfchluß Uri's lautet dahin: es fei Aargau mit feiner Klage abzuweisen.

Offenbar treten hier zwei Kantone gegen einander auf und die in der Bundesverfassung Art. 101, Ziffer 1 Litt. a.

enthaltene Bestimmung ist vorhanden. Ob die Klage Aargau's eine begründete oder eine unbegründete fei, solches zu entscheiden ist aber Sache des Bundesgerichts.

Jedenfalls hat also die Sache dahin zu gelangen.

Aber geht man auch tiefer ein und fragt sich : ist im Grunde und bei'm Lichte betrachtet nur ein Streit zwischen zwei Gemeinden, wie Uri behauptet, oder ist wirklich ein Streit zwischen zwei Kantonen, wie Aargau behauptet, vorhanden, so muß sich die Kommission für das leztere entscheiden. Wenn der Streit als zwischen zwei Gemeinden obschwebend betrachtet werden wollte, so sind diese

190 zwei Gemeinden A l l i s w y l und W a se n. Allein dia Gemeinde A l l i s w y l würde, so viel ans den Akten erhellt, das Kind anerkennen, wenn solches von ihr abhienge, doch die Regierung von Aargau gibt es nicht zu, und wie es scheint, würde auch die Regierung von Uri nicht zugeben, daß die Gemeinde Wasen das Kind anerkenne.

Die Regierungen handeln also nicht Namens der ©einein-..

den, sondern selbstständig. Fragt man weiter, haben die Regierungen ein Interesse, geht sie die Sache etwas an, so ist auch diese Frage zu bejahen. Es handelt sich, wie Aargau richtig bemerkt, um die K a n t o n s h ö r i g k e i t .

Betrachte man die Antecedentien, so findet man, daß schon vor der Bundesverfassung von 1848 Streite zwischen Kantonen über Kantonshörigkeit von Personen an das eidgenössische Recht gelangten, während der kurzen Dauer des Bundesgerichts seit 1848 beurtheilte es schon ähnliche

Fälle.

Ferner ist zu bemerken, daß auf einem Umwege, wenn man dem Stande Aargau den Zutritt vor das Bundesgericht dermalen und in der Weife, wie es denfelben verlangt, nicht gestatten würde, der -Streit zulezt doch an das Bundesgericht gelangen dürfte. Seze man nur den Fall, die Kantone Aargau und Uri würden anfangen, das quästionirliche Kind einander polizeilich znznfchieben, indem jeder Theil behauptete, dasfelbe gehöre nicht ihm, sondern dem andern Theile an. Am Ende müßte doch das Bundesgericht den Zwist in Folge Anordnung des

Bundesrathes schlichten.

Die Kommission glaubt endlich noch auf einen GesichtsPunkt ausmerkfam machen zu sollen, in Folge dessen man weniger ängstlich sein darf, einen Streitgegenstand an das Bundesgericht z« weifen. Früher durch die Annahme eines sogenannten eidgenössischen Rechts, später durch die

191 Aufstellung eines Bundesgerichts hat sich die Stellung der Kantone in Rechtsstreitigkeiten anders gestaltet, als wenn sie als völlig unabhängige Staaten einander gegenüber ständen. Wenn z. B. ein Staat an den andern ans irgend einem Rechtstitel eine Ansprache macht, so muß er den Fiskus des betreffenden Staats vor den Gerichten des Bundes belangen. Jn Folge des frühern Instituts des eidgenössischen Rechts und des spätem des Bundesgerichts ist solches zwischen den Schweizerkantonen nicht der Fall. Das Bundesgericht soll die Streitigkeiten entscheiden, welche nicht staatsrechtlicher Natur sind, dem S t a a t s r e c h t e gegenüber steht das Privatrecht.

Das Bundesgericht ist also bestimmt, privatrechtliche Streitigkeiten zwischen den Kantonen zu schlichten, während dieses sonst, wenn man nichts von einem solchen Rechtsinstitut wüßte, den Gerichten des angesprochenen Staats zustehen würde.

Ans allen diesen Gründen gelangt die Kommission im Einklang mit der Ansicht des Bundesrathes zu dem Schlüsse, es habe das Bundesgericht die mehrerwähnte Streitfache zwifchen den hohen Ständen Aargau und Uri zu beurtheilen und legt in diesem Sinne einen Antrag vor.

Bern, den 2. August 1851.

Die Mitglieder der Kommission: Dr. Kasimir Psj-jffer, Berichterstatter.

Glafson.

Karrer.

Rüttimaun.

Kappeler.

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Bericht der von der Bundesversammlung niedergesezten Kommission, betreffend den Konflikt zwischen Aargau und Uri, hinsichtlich des Heimathrechtes der Johanna Walter (Vom 2. August 1851.)

In

Bundesblatt

Dans

Feuille fédérale

In

Foglio federale

Jahr

1851

Année Anno Band

3

Volume Volume Heft

55

Cahier Numero Geschäftsnummer

---

Numéro d'affaire Numero dell'oggetto Datum

25.10.1851

Date Data Seite

183-191

Page Pagina Ref. No

10 000 754

Das Dokument wurde durch das Schweizerische Bundesarchiv digitalisiert.

Le document a été digitalisé par les. Archives Fédérales Suisses.

Il documento è stato digitalizzato dell'Archivio federale svizzero.