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Bundesratsbeschluss über

die Beschwerde des Regierungsrates des Kantons Uri gegen eine Entscheidung des Kleinen Rates des Kantons Graubünden vom 17. September 1895 betreffend Rückerstattung der der Heimatlosenfamilie Josef Maria Lorez-Z'graggen in Schattdorf (Uri) gewährten Unterstützungen.

(Vom 6. Januar 1898.)

Der schweizerische Bundesrat hat über die Beschwerde des Regierungsrates des Kantons Uri gegen eine Entscheidung des Kleinen Rates des Kantons Graubünden vom 17. September 1895 betreffend Rückerstattung der der Heimatlosenfamilie J o s e f M a r i a L o r e z - Z ' g r a g g e n in Schattdorf (Uri) gewährten Unterstützungen, auf den Bericht des Justiz- und Polizeidepartements, folgenden Beschluß gefaßt:

A.

In thatsächlicher Beziehung wird festgestellt:

I.

Auf Grund des Heimatlosengesetzes vom 3. Dezember 1850 beschloß der Bundesrat den 5. Januar 1892, bezüglich der Heimatberechtigung der im Kanton Uri wohnhaften Familie Lorez, daß der Kanton Graubünden verpflichtet sei, 26 genau bezeichnete

51 Personen dieses Namens, deren Bürgerrecht bestritten war, als Kantonsbürger anzuerkennen und ihnen ein Gemeindebürgerrecht auszurnitteln ; die Gemeinde Vais anerkannte hierauf alle diese Personen als ihre Bürger. Unter ihnen befand sich auch die Familie des Josef Maria Lorez-Z'graggen in Schattdorf.

II.

Im Laufe der der bundesrätliehen Entscheidung vom 5. Januar 1892 vorausgehenden Untersuchung hatte Dr. F. Schmid in Altdorf dem Bundesrate die Mitteilung gemacht, daß der genannte Josef Maria Lorez seine Familie in Schattdorf verlassen habe und daß seine Frau mit 4 Kindern in großer Armut lebe ; sie erhalte weder von der Gemeinde Schattdorf noch von ihrer mutmaßlichen Heitnatgemeiude Vais Unterstützung. Der Bundesrat lud mit Beschluß vom 21. August 1885 die Regierung von Uri ein, ,,für angemessene Unterstützung der Frau Katharina Lorez geb. Z'graggen und deren Kinder besorgt zu sein, in der Meinung jedoch, daß für den Entscheid über das Heimatrecht der Familie Lorez hieraus kein Präjudiz abgeleitet werden soll11.

III.

Der Regierungsrat des Kantons Uri wies infolgedessen die Gemeinde Schattdorf an, bis zur Entscheidung über das Heimatrecht der Familie Lorez-Z'graggen Unterstützung zu gewähren.

Die Gemeinde Schattdorf verausgabte zu diesem Zwecke vom 21. September 1885 bis zum 4. April 1892 Fr. 1752.--; ferner gewährte sie weitere Unterstützungen vom 27. April 1892 bis zum 31. Dezember gleichen Jahres im Betrage von Fr. 110. 47.

IV.

Nachdem durch den in Rechtskraft getretenen Bundesratsbeschluß vom 5. Januar 1892 das Heimatrecht der Familie LorezZ'graggen im Kanton Graubünden festgestellt worden war, klagte der Kanton Uri namens der Gemeinde Schattdorf die genannten Beträge nebst Fr. 319. 28 Zinsen, im ganzen Fr. 2181. 75, gegen die Gemeinde Vais beim Bezirksgericht Glenner ein ; die beklagte Gemeinde erhob jedoch die Kompetenzeinrede beim Kleinen Rat des Kantons Graubünden ; dieser erklärte die erhobene Einrede den 14./22. September 1894 für begründet, da der Anspruch des Kantons Uri, der nur auf Grund der bündnerischen Armenordnung

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erhoben werden könne, nicht privatrechtlicher, sondern verwaltungsrechtlicher Natur sei ; derselbe gehöre demnach vor das Forum der Administrativbehörde. Die gegen diese Entscheidung beim Bundesgericht wegen Verfassungsverletzung eingereichte Beschwerde des Kantons Uri war erfolglos, da weder eine Verletzung der Garantie des verfassungsmäßigen Richters noch eine Verletzung des Prinzips der Gewaltentrennung vorliege (Bundesgerichtliches Urteil vom 20. März 1895).

V.

Der Kanton Uri klagte nun die Forderung von Fr. 2181. 75 vor dem graubündnerischen Kleinen Rat ein, als der für öffentlichrechtliche Ansprüche kompetenten graubündnerischen Behörde; mit Entscheidung vom 17. September 1895 wies der Kleine Rat des Kantons Graubünden die Forderung des Kantons Uri als unbegründet ab, in Erwägung ziehend: Die Frage, wer die von der Gemeinde Schattdorf während der Untersuchung der Heimatangehörigkeit der Familie Lorez geleisteten Unterstützungsbeträge zu tragen habe, entscheidet sich nicht nach Maßgabe des kantonalen Rechts, sondern nach Maßgabe des eidgenössischen Heimatlosengesetzes vom 3. Dezember 1850. Diese Frage ist gemäß der vom Bundesgericht dem Art. 8 dieses Gesetzes gegebenen Auslegung dahin zu beantworten, daß der vom Bundesrate als duldungspflichtig erklärte Kanton die damit verbundenen Kosten zu tragen hat, auch wenn nachher einem anderen Kantone die Binbürgerungspflicht auferlegt wird. Es hat daher der Kanton Uri kein Rückforderungsrecht für die der Familie Lorez während des hängenden Heimatlosenprozesses bewilligten Unterstützungen.

Was die nach der Erledigung des Heimatlosenprozesses bewilligten Unterstiitzungsbeträge anlangt, so ist hiefür die graubündnerische Armenordnung maßgebend ; diese bestimmt zwar in Art. 4, daß wenn jemand durch plötzliche Unglücksfälle für sich oder seine Familie augenblicklicher Hülfe bedürftig wird, die Wohngemeinde ihn mit dem Notwendigsten zu unterstützen hat, und daß die Wohngemeinde für ihre Auslagen ein Rückgriffsrecht auf die Heimatgemeiude hat, sofern sie ihr sofort von dem Unterstützungsfalle Anzeige macht. Im vorliegenden Falle trifft aber keine dieser Voraussetzungen zu.

53 VI.

Gegen diese Entscheidung ergriff die Regierung des Kantons Uri (vertreten durch Dr. F. Schmid) mit Eingabe vom 7. August 1896 den Rekurs an den Bundesrat; sie macht geltend: Die Entscheidung des Kleinen Rates des Kantons Graubünden vom 17. September 1895 steht im Widerspruch mit der Entscheidung derselben Behörde vom 14. September 1894 betreffend die Gerichtsstandsfrage ; das eine Mal soll für die streitige RückerstattungsIrage die graubündnerische Armenordnung massgebend sein, das andere Mal dagegen das eidgenössische Heimatlosengesetz. Die Regierung von Graubünden war nicht berechtigt, den zuerst eingenommenen Rechtsstandpunkt zu verlassen; ,,sie müßte sich sonst den Vorwurf' gefallen lassen, das Bundesgericht durch unrichtige Angaben mehr oder minder irregeführt zu haben.a Es ist unrichtig, daß zwischen den Kantonen Graubünden und Uri ein Heimatlosenstreit obgewaltet hat ; da die Vorfahren der Familien Lorez nachweislich vor 300 Jahren als Bürger der Gemeinde Vais in das Land Uri eingewandert waren und daselbst ununterbrochen gewohnt hatten, mußten die Angehörigen dieser Familien entweder Bürger von Graubiinden oder Bürger von Uri sein. Die bündnerischen Behörden haben dem Bundesratsbeschluß vom 21. August 1885 eine ganz irrige Bedeutung beigelegt; der Bundesrat hat keineswegs die Frage entschieden, wer die Kosten der bis zur Ermittelung der Heimatangehörigkeit der Familie Lorez-Z'graggen angeordneten Unterstützung endgültig zu tragen hat; diese Frage ist vielmehr eine offene geblieben.

Bezüglich der Ergänzungsnote von Fr. 110. 47 hätte es der Billigkeit entsprochen, gemäß der in Art. l der graubündnerischen Armenverordnung statuierten Unterstiltzungspflicht der Heimatgemeinde, die Gemeinde Vais wenigstens zur Rückerstattung dieser Kosten anzuhalten. Da die Gemeinde Schattdorf ohne jede Schuld der ihr nicht zugehörigen Familie Lorez-Z'graggen während vielen Jahren Unterstützungen in bedeutendem Betrage gewähren mußte, so ist es nur billig, daß ihr gegen die Unterstützungspflichtige Heimatgemeinde ein Eüchgriffsrecht zugestanden wird.

VII.

Die Regierung des Kantons Graubünden erwidert zur Rechtfertigung der Entscheidung vom 17. September 1895 in ihrer Vernehmlassung vom 20. Oktober 1896 im wesentlichen folgendes:

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Da die Verletzung einer bundesrechtlichen Bestimmung nicht nachgewiesen ist, so wird der Bundesrat auf die Beschwerde wegen Inkompetenz nicht eintreten. Ein Widerspruch zwischen den beiden Entscheidungen vom 14. September 1894 und 17. September 1895 besteht nicht; bei der ersten handelt es sich lediglich um Feststellung der rechtlichen Natur der Rückerstattungsklage; diese Klage bleibt eine administrativrechtliche, ob sie nun nach der kantonalen Armenordnung oder nach dem eidgenössischen Heimatlosengesetz beurteilt wird.

Auch an der materiellen Erledigung der Klage hätte die Anwendung der kantonalen Armenordnung nichts ändern können.

Art. i derselben, der in der Beschwerde angerufen wird, statuiert nur die Unterstützungspflicht der Gemeinde gegenüber ihren bedürftigen Bürgern, während die im vorliegenden Falle praktische Frage des Rückgriffs der Wohngemeinde auf die Heimatgemeinde in Art. 4 geregelt ist. Nach den Bestimmungen dieses Artikels aber mußte die Forderung des Kantons Uri abgewiesen werden.

B.

In rechtlicher Beziehung fällt in Betracht:

I.

Wie der Bundesrat schon in seiner Verfügung vom 11. März 1874 festgestellt hat, handelte es sich in der Angelegenheit der Familie Lorez um einen Heimatlosenfall, der nach Maßgabe der Vorschriften des eidgenössischen Heimatlosengesetzes zu erledigen war. Auf Art. 8 dieses Bundesgesetzes stützt sich daher der Beschluß des Bundesrates vom 21. August 1885, durch den der Kanton Uri verpflichtet wurde, einstweilen für angemessene Unterstützung der Katharina Lorez geb. Z'graggen und deren Kinder zu sorgen. Einer solchen einstweiligen Verfügung des Bundesrates haben die Kantone nachzuleben; es steht ihnen gegen dieselbe ein selbständiges Rekursrecht an das Bundesgericht oder an die Bundesversammlung nicht zu. Erst nachdem der definitive Entscheid des Bundesrates über die Einbürgerung einer heimatlosen Familie ergangen ist, können die betroffenen Kantone gemäß Art. 9 des Heimatlosengesetzes die Überprüfung der ganzen Angelegenheit durch das Bundesgericht verlangen, uud das Bundesgericht hat bei diesem Anlaß auch die Frage zu entscheiden, \ver die finanziellen Folgen eines vorläufigen Beschlusses des Bundesrates zu tragen hat. Diese Frage ist übrigens bundesgerichtlich

55 entschieden worden. In einem Urteil vom 5. Dezember 1857 hat das Bundesgericht in Interpretation von Art. 8 des Heimatlosengesetzes erkennt, daß ,,dem duldungspflichtigen Kanton auch die Lasten der Duldung auferlegt werden wollten" (Ullmer, I, Nr. 494); im Gegensatz zum früheren Bundesrecht auf Grund der Vorschriften des eidgenössischen Konkordates betreffend Heimatlosigkeit vom 30. Juli 1847, Art. 9 (ältere off. Sammlung, m, S. 322) kann nach geltendem Recht der zur vorläufigen Duldung einer heimatlosen Familie angehaltene Kanton für seine ihm aus dieser Duldung erwachsenen Auslagen keinen Regreß gegen den Kanton geltend inachen, dem nach Abschluß der Untersuchung die heimatlose Familie zur Einbürgerung zugesprochen wird.

II.

Die Urner Regierung hätte demnach ihren Anspruch auf Rückerstattung der bis zur bundesrätlichen Entscheidung vom 5. Januar 1892 der Familie Lorez-Z'graggen geleisteten Unterstützungen innert nützlicher Frist nach Mitteilung dieser Entscheidung beim Bundesgericht anhängig machen sollen ; allerdings wäre dieser Anspruch vom Bundesgericht kaum gutgeheißen worden, sofern dasselbe die bisherige konstante Praxis zu seiner Richtschnur genommen hätte. Für den Bundesrat aber besteht keinerlei Kompetenz, auf den fraglichen Anspruch der Urner Regierung einzutreten. Die bundesgerichtliche Kompetenz schließt ohne weiteres diejenige des Bundesrates aus, und hierbei ist belanglos der Umstand, daß die graubündnerische Regierung den 17. September 1895 trotz mangelnder Kompetenz diesen Anspruch materiell entschieden hat; es kann demnach der Bundesrat weder vom Gesichtspunkte des staatsrechtlichen Rekurses auf Grund der Artikel 189 ff. des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege vom 22. März 1893, noch vom Gesichtspunkt der Vorschrift von Art. 102, Ziffer 2, der Bundesverfassung, sich mit der. Entscheidung des Kleinen Rates des Kantons Graubünden vom 17. September 1895 befassen.

m.

Was endlich die seit der bundesrätlichen Entscheidung vom 5. Januar 1892 entstandenen Unterstützungskosten der Gemeinde Schattdorf anlangt, so kann sich der Regreßanspruch des Kantons Uri nur auf ein kantonales Gesetz oder ein Versprechen von Graubünden stützen, oder endlich darauf, daß der Kanton Uri öffentlich-

56 rechtliche Geschäfte geführt habe, deren Besorgung nach den geltenden staatsrechtlichen Grundsätzen nicht ihm, sondern dem Kanton Graubünden obgelegen habe. (Bundesgerichtliche Entscheidung vom 24. Juli 1882 in Sachen Baselstadt gegen Solothurn, Band VIII, S. 436.) In keinem dieser Fälle hat der Bundesrat Entscheidungsbefugnis, weder als erste Instanz, noch, als Oberinstanz ; inwieweit das Bundesgericht etwa nach Art. 175, Ziffer 3, oder 48, Ziffer 3, des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege kompetent wäre, ist an dieser Stelle nicht zu untersuchen.

Demnach wird erkannt: Auf den Rekurs wird wegen Inkompetenz des Bundesrates nicht eingetreten.

B e r n , den 6. Januar 1898.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident:

Buffy.

Der I. Vizekanzler: Schatzmann.

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