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Schweizerische Bundesversammlung,

Die gesetzgebenden Räte der Eidgenossenschaft sind am 12. April 1898 zur Fortsetzung der ordentlichen Wintersession zusammengetreten.

Neugewählte Mitglieder.

Nationalrat.

Herr Hi d ber, Ferdinand, Gemeindeammann, von und in Mels.

Ständerat.

Herr B i g l e r , Franz, Kaufmann, von Worb, in Biglen.

Im N a t i o n a l r a t eröffnete Herr Präsident Grieshaber die Session mit folgender Ansprache: Meine Herren Nationalräte f Bei unserer Versammlung zu einer Fortsetzung der ordentlichen Wintersession habe ich abermals das Vergnügen, Sie in der Bundesstadt zu begrüßen und willkommen zu heißen. Seit unserer Tagung im Dezember ist eine Abslimmung erfolgt, welche einen Marktstein bilden wird in der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes.

Im Volksentscheid vom 20. Februar ist das Bundesgesetz über die Verstaatlichung der Eisenbahnen mit 386,000 Ja gegen 182,000 Nein, also mit einem Mehr von über 200,000 Stimmen angenommen worden. Dieses imponierende Resultat bedeutet nicht einen Sieg einer oder mehrerer politischen Parteien, es ist das Ergebnis des Zusammenwirkens aller Parteien, es ist eine allgemeine nationale That. Jetzt erst nach 47 Jahren soll in Erfüllung gehen, was schon 1851 die nationalrätliche Kommission mit den schönen Worten in Aussicht genommen hatte: ,,Das Eisenbahnwesen der Schweiz soll eine nationale Schöpfung sein, ein kräftiges Bindemittel für alle unsere Stämme, eine neue That der lebenskräftigen Demokratie, ein großes Denkmal unseres neuen Bundes." Ja, lebenskräftig hat sie sich erwiesen, unsere Demokratie, voll Vertrauen in ihre eigene Kraft, voll Vertrauen in die Zukunft, voll Vertrauen

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zu ihren Vertretern und Behörden. An diesen wird es sein, dieses Vertrauen zu rechtfertigen, den gewaltigen Ernst der übernommenen Pflicht nicht zu unterschätzen, die Centralisation vor Ausartung in Bureaukratie zu wahren, die Schweizerbahnen zu wirklichen Volksbahuen zu gestalten, bestimmt zur Hebung von Handel, Industrie. Landwirtschaft und Gewerbe. Wenn diese Eisenbahnverstaatlichung, allerdings zunächst eine eminent wirtschaftliche Frage, mit dazu beiträgt, den eidgenössischen Staatsgedanken zu mehren und zu fördern, so wollen wir uns hierüber gerade im Jahre 1898 freuen, wo wir jetzt in Erinnerungsschriften so oft zu lesen Gelegenheit haben, wie überaus traurig es vor 100 Jahren im Schweizerland ausgesehen hat.

Im März 1798 war es, als die alte Eidgenossenschaft, onne allgemeine Gegenwehr einem fremden Einfalt unterliegend, wie ein morsches Gebäude in sich selbst zusammengestürzt ist. Nicht fehlte es an wehrhaften, auch nicht an patriotischen und weitblickenden Männern, auch nicht an den nötigen Kriegsvorräten und weshalb gleichwohl diese unrühmliche Preisgabe der höchsten Gilter? Es fehlte an einem einheitlichen Staatsgedanken und an einer Centralgewalt, sowie an dem richtigen Einvernehmen zwischen den Regierungen der Kantone und ihrer Völker, an auf demokratischer Grundlage fußenden Gemeinwesen. Gerade heute vor 100 Jahren, am 12. April 1798, haben die Abgeordneten der Kantone in Aarau die Annahme der Verfassung der einen und unteilbaren helvetischen Republik erklärt. Diese, von der fränkischen Republik aufgedrungene und auf die geschichtliche Entwicklung der Schweiz keine Rücksicht tragende Einheitsverfassung hatte zwar keinen langen Bestand ; sie enthielt aber vortreffliche Ideen, welche teils ihre Verwirklichung gefunden haben, teils, wie ich gerade mit Bezug auf die Rechtseinheit hoffe, in der Folge noch finden werden. Dürfen wir es bei unserm 100jährigen Rückblick nicht freudig anerkennen, ,,daß heute die Schweiz ganz anders dasteht als dazumal? Neben aufblühenden Kantonen erfreuen wir uns eines festgefügten Bundesstaates mit eigener kräftiger Centralgewalt; der Bund nimmt im Staatenkonzert diejenige geachtete Stellung ein, welche einem Rechts- und Kulturstaat gehört; keine auswärtige Macht denkt mehr daran, sich in unsere innern Angelegenheiten einzumischen; der Bund ist im stände,
seine Freiheit und Unabhängigkeit mit bewaffneter Macht zu verteidigen, sämtliche Kantone beruhen auf demokratischer Grundlage Freiheit und Gleichheit, das bezaubernde Losungswort von 1798, ist überall zu That und Wahrheit geworden, die Lösung wichtiger humanitärer und volkswirtschaftlicher Fragen ist unsere nächste Sorge. Allerdings bleibt noch viel zu thun, mögen Jahre des Friedens eine ruhige Weiterentwicklung ermöglichen! Hiermit sei

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unser liebes Vaterland auch fernerhin dem Machtschutz des Allmächtigen empfohlen !

Noch erübrigt mir, meine Herren Nationalräte, zweier Kollegen Erwähnung zu thun, welche uns durch den Tod entrissen worden sind, es sind dies die Herren Ständerat Stockalper und Nationalrat Wuilleret.

Georges de Stockalper wurde 1860 in St. Maurice geboren.

Er studierte die Rechte, übte erst den Beruf eines Rechtsanwaltes aus, wurde später Untersuchungsrichter und hernach Gerichtspräsident in St. Maurice. Er war Mitglied des Großen Rates und seit einem Jahr Mitglied des Ständerats. Er erlag einem dreimonatlichen Leiden den 11. Februar d. J., in einem Alter von erst 38 Jahren. Die Charaktereigenschaften dieses Mannes sind : Überzeugte Hingabe an seine Kirche und an das föderalistische Prinzip, treueste Pflichterfüllung als Beamter wie in seinen sonstigen Geschäften, ansprechende Einfachheit und große Herzensgüte. Aus der Fülle eines reichen und milden Herzens spendete er Rat und Trost an die Armen und Bedrückten. Diese haben an ihm einen aufrichtenden Vater verloren, der Kanton Wallis trauert um den zu frühen Hinscheid eines ebenso trefflichen Bürgers wie Magistraten.

Louis Wuilleret wurde zu Weihnachten 1815 zu Romont geboren. Er studierte die Rechte und etablierte sich als Rechtsanwalt in Freiburg. Lange unterhielt er daselbst ein stark frequentiertes Advokaturbureau, in welchem er manchen jungen Meister heranzog.

Frühe wandte er sich auch der Politik zu. Gute Begabung, eingehende juristische Studien und große Beredsamkeit, dazu eifriger Förderer der katholisch-konservativen Partei, besaß er alle Eigenschaften, um in seinem Heimatkanton eine führende Rolle zu spielen. Bald wurde er auch der einflußreichste Mann des Landes, dessen Geschicke vielfach in seiner Hand lagen. Wie groß sein Ansehen daselbst war, beweist der Umstand, daß er während 39 Jahren ununterbrochen die Stelle des Präsidenten oder Vizepräsidenten des Großen Rates bekleidete. Lebhaft war auch seine Beteiligung an den gesetzgeberischen Arbeiten seines Heimatkantons.

Seit 1889 hatte er die Stelle eines Kantonsgerichtspräsidenten inné.

Ohne vorangegangene Krankheit, lediglich infolge Abschwächung, starb er don 23. Februar d. J. in seinem 83. Lebensjahre. Unserm Rate gehörte der Verstorbene ununterbrochen seit 1853 an; es war derselbe unser
Alterspräsident. Seit Jahren hat er sich an den Debatten wenig mehr beteiligt, während er in den besten Jahren sich als gewandter Redner gezeigt hatte. Mit dem Hinscheid Louis Wuillerets hat ein arbeitsreiches Leben seinen Abschluß gefunden, durch welchen der Kanton Frei bürg in große Trauer versetzt

869 worden ist. (Zu Ehren des Andenkens der Hingeschiedenen erheben sich die Ratsmitglieder von ihren Sitzen.)

Im S t ä n d e r a t wurde die Session von Herrn Präsident Raschein mit folgender Ansprache eröffnet : Meine Herren Kollegen!

Bei Eröffnen dieser außerordentlichen Frühjahrssession habe ich vorerst zweier Männer zu gedenken, die der Bundesversammlung angehört, haben und seit der letzten Dezembersession aus diesem Leben abberufen wurden. Es sind dies 1. Ständerat Georges Stockalper, von St. Maurice, ira Kanton Wallis. Derselbe wurde 1860 in St. Maurice geboren, machte daa dortige Gymnasium durch, seine juristischen Studien in Sitten und München und ließ sich in seiner Heimat als Advokat nieder. Das Zutrauen seiner Mitbürger berief ihn aber bald in öffentliche Stellungen und Ämter; er war Großratsabgeordneter seines Kreises von 1889 bis zu seinem Tode, dann Präsident des Bezirksgerichts.

Unserem Rate gehörte er erst seit Dezember 1896 an.

Obgleich von Natur etwas zart und schwächlich, hat er doch mit der größten Energie die vielen Arbeiten, die ihm übertragen wurden, aufs gewissenhafteste durchgeführt; er war ein liebenswürdiger Charakter, ein Wohlthäter der Armen, geehrt und geachtet von Freund und Feind. Ein eigenes Geschick hat es so gefügt, daß er, wie sein Vorgänger, Ständerat Kalbermatten, im schönsten Mannesalter hinweggerafft wurde.

2. Unterdessen hat der andere Rat sein ältestes Mitglied, Nationalrat Louis Wuilleret von Freiburg, verloren. 1815 zu Romont geboren, machte er die dortigen Schulen durch, kam dann zur Erlernung der deulschen Sprache nach Luzern, seine juristischen Studien absolvierte er ebenfalls in München. Schon im Jahre 1837 trat er als Advokat auf, und im Jahre 1887 war es ihm vergönnt, noch in voller geistiger Rüstigkeit sein SOjähriges Jubiläum zu feiern. In das öffentliche Leben trat er erst Ende der 40er Jahre ein. 1853 wurde er in den Nationalrat gewählt, dem er ununterbrochen bis zu seinem Tode angehörte. Als Alterspräsident hat er denselben im Dezember 1896 eröffnet. Im kantonalen Dienste hat er abwechselnd als Präsident des Obergerichts und des Großen Rates viele Jahre lang die höchsten Stellen bekleidet.

Zum Andenken an die Verstorbenen lade ich Sie ein, sich erheben zu wollen.

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Meine Herren Kollegen!

Wie ich glaube, geziemt es sich, heute an d i e s e r S t e l l e nicht nur der Toten zu gedenken, sondern auch einer That Erwähnung zu thun, die das Schweizervolk durch die Abstammung vom 20. Februar vollbracht hat.

Es sind gerade 100 Jahre verflossen, seit die alte Eidgenossenschaft durch Schwäche und Zerfahrenheit zusammenfiel und fremde Kriegsscharen unser Land verwüsteten; zwar wurde noch meistens mit der alten Tapferkeit gekämpft und manch schönes Beispiel von Aufopferung und Heldenmut gegeben ; aber es fehlte die Einigkeit, das Zusammenhalten; das Band, das die einzelnen Glieder zu einem Ganzen verbinden sollte, war zu locker und schwach, um den mächtigen Anpra.ll von außen abzuwehren. Jedes Bundesglied war nur darauf bedacht, sich möglich gut aus der Gefahr zu retten, unbekümmert, wie es dem Nachbar ergehen werde. In den regierenden Kreisen fehlte das richtige Verständnis für die Ideen und Forderungen einer neuerwachenden Zeit.

So ist mit einem Schlag das ganze Gebäude zusammengestürzt, woran so viele Generationen jahrhundertelang gearbeitet und wofür unsere Vorfahren soviel Blut vergossen hatten.

Von 1798 bis 1848 ging ein halbes Jahrhundert durch das Land, bis es endlich gelang, den wiederhergestellten schwächlichen Staatenbund in einen Bundesstaat umzuwandeln. Ohne viel Blutvergießen und ohne allzugroße Opfer vollzog sich diese mächtige Umgestaltung von 1848 -- das beste Zeichen dafür, daß die Frucht endlich reif geworden war.

Vergangenen Februar, nach abermals 50 Jahren, stund unser Land und Volk wiederum vor einem entscheidenden Wendepunkt; es betraf dies zwar keine große Verfassungsfrage, wohl aber eine nationalökonomische und volkswirtschaftliche von höchster Bedeutung, eine Frage, von deren Lösung das Wohl oder Wehe der kommenden Geschlechter zum guten Teil abhangen wird. -- Mit einer Mehrheit von über 200,000 Stimmen hat das Sehweizervolk an jenem Tage der E i s e n b a h n v e r s t a a t l i c h u n g seine Genehmigung erteilt.

Für und gegen den Rückkauf der Eisenbahnen ist mit beispielloser Thätigkeit gearbeitet worden, und das Volk hat sich bei der Abstimmung vom 20. Februar so stark beteiligt wie noch nie zuvor, mehr sogar als bei der Verfassungsrevision von 1874.

Um diese Frucht zu zeitigen, bedurfte es also wieder eines vollen halben Jahrhunderts;
denn schon bei den Debatten der 1848er Verfassung wurde der Bau der Eisenbahnen durch den Staat lebhaft besprochen. Die ersten Träger dieser Idee sind fast alle schon

871 lange aus diesem Leben abberufen worden ; vor wenigen Stunden noch ist einer dieser Veteranen, Oberst Z s c h o k k e in Aarau, zu Grabe getragen worden. Ich will die einzelnen Stadien, welche jene Frage durchmachen mußte, nicht näher anführen -- sie sind bekannt. Nur erlaube ich mir, im Namen aller die Erwartung auszusprechen, daß a l l e ohne Ausnahme mithelfen, das großartige Werk der Eisenbahnverstaatlichung so durchzuführen, daß die schönen und großen Hoffnungen, die man daran geknüpft hat, auch in Erfüllung gehen.

Fragt man sich nun, welche Folgen dieser Volksentscheid für die Lösung anderer großen Fragen nach sich ziehen werde, so scheint man in gewissen Kreisen die Auffassung zu vertreten, das Volk sei nun mit einem Schlage reif geworden, um den Forderungen aller Fraktionen gerecht zu werden. Vor dieser allzu optimistischen Meinung sollte, glaube ich, gewarnt werden. Wir befinden uns zwar in einer schnelllebigen Zeit für den Einzelnen, das Völkerleben aber geht immer noch seinen ruhigen, langsamen Gang. Eine Übersicht der Referendumstafel seit 1848 sollte uns davon überzeugt haben. Das Referendum ist zwar ein gutes demokratisches Erziehungsmittel ; wenn es aber zu oft heraufbeschworen wird, so erweckt es Unwillen, Übersättigung und Gleichgültigkeit.

Der gemeine Mann beschäftigt sich im allgemeinen nicht viel und nicht gern mit öffentlichen Angelegenheiten. Er hat meistens im schweren Kampfe ums Dasein genug für sein Haus und seine nächste Umgebung zu thun und will im weitern möglichst wenig geplagt sein durch Gemeinde-, kantonale und eidgenössische Abstimmungen.

Nur wenn er sich überzeugt hat, daß eine Änderung durchaus notwendig, eine Neuerung durchaus unabweisbar ist, dann tritt er für die Sache ein. Wird ihm aber zuviel auf einmal gereicht, so verwirft er oft aus lauter Argwohn und Unmut. Meines Erachtens ist es daher angezeigt und staatsmännisch klug, auch gegenwärtig in dieser Beziehung Maß zu halten, damit die schöne Übereinstimmung zwischen dem Volke und dessen Vertretung nicht sobald gestört und getrübt werde.

In dieser Hoffnung erkläre ich diese Session für eröffnet.

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13.04.1898

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866-871

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