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Schweizerisches Bundesblatt.

50. Jahrgang. IV.

Nr. 39.

14. September 1898.

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Bundesratsbeschluss über

die Frage der Haftpflicht in Sachen des dem Gottfried Jäckli in Widnau (St. Gallen) zugestoßenen Unfalles.

(Vom 8. September 1898.)

Der s c h w e i z e r i s c h e Bundesrat hat

über die Frage der Haftpflicht in Sachen des dem Gottfried J ä c k l i in Widnau (St. Gallen) zugestoßenen Unfalles, auf den Bericht seines Justiz- und Polizeidepartements folgenden Beschluß gefaßt: Mit Eingabe vom 5. August 1898 stellt der Regierungsrat des Kantons St. Gallen an den Bundesrat das Gesuch, zu entscheiden, ob in Sachen des dem Gottfried Jäckli in Widnau zugestoßenen Unfalles Haftpflicht bestehe und, bejahenden Falls, wer haftpflichtig sei, ob der Bauherr Rohner oder der Schmiedmeister Frey.

Aus den Akten ergiebt sich : Jakob Rohner, Stickfabrikant von Rebstein, begann im Herbst 1897 mit dem Neubau einer Schiffstickerei in Widnau. Die Bauarbeiten wurden teils im Accord, teils im Taglohn ausgeführt.

Bundesblatt. 50. Jahrg. Bd. IV.

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Einen Teil der Schmiedearbeit übergab Rohner dem Schmiedmeister Othmar Frey von Berneck, den er samt seinen Arbeitern im Taglohn beschäftigte. Frey selbst hatte zu keiner Zeit mehr als fünf Arbeiter eingestellt. Am 3: November 1895 stieß dem von Frey engagierten Handlanger Gottfried Jäckli beim Abstellen einer Bohrmaschine ein Unfall zu. Sowohl Schmiedmeister Frey als auch Bauherr Rohner bestreiten die Haftpflicht. Ersterer beruft sich darauf, daß er nie mehr als fünf Arbeiter beschäftigt habe, und letzterer begründete seine ablehnende Haltung damit, daß der verunglückte Jäckli nicht von ihm zur Arbeit eingestellt worden sei, sondern im Auftrage des Frey gearbeitet habe.

In rechtlicher Beziehung ist folgendes festzustellen: Nach Art. l des Bundesgesetzes vom 26. April 1887 ist das Baugewerbe dem Haftpflichtgesetze vom 25. Juni 1881 unterstellt, wenn der Arbeitgeber während der Betriebszeit durchschnittlich mehr als fünf Arbeiter beschäftigt.

Da der Schmiedmeister Frey zur Zeit des Unfalles unbestrittenermaßen nicht mehr als fünf Arbeiter beschäftigte, so kann keine Rede davon sein, daß derselbe bei der Ausführung der ihm übertragenen Arbeiten dem Haftpflichtgesetze unterstellt gewesen sei.

Was dagegen den Bauherrn Rohner betrifft, so ergiebt sich aus den Akten, daß er beim betreffenden Neubau am Tage des Unfalles 79 Arbeiter beschäftigt hat, hiervon 10 im Accord und 69 im Taglohn. Ist demnach die gesetzliche Mindestzahl von Arbeitern erreicht, so bleibt dagegen zweifelhaft, ob die Unternehmung Rohners als ein Baugewerbe im Sinne von Art. l, Ziffer 2, litt, a, des Gesetzes vom 26. April 1887 betrachtet werden kann.

Hierbei ist zunächst unerheblich, daß Rohner als Fabrikbesitzer kraft des Bundesgesetzes vom 25. Juni 1881 der Haftpflichtgesetzgebung untersteht 5 die Bauunternehmung ist vom Fabrikbetrieb Rohners technisch vollständig getrennt und kann nicht zu demselben gerechnet werden, auch wenn der fertige Bau zur Vergrößerung der Fabrikanlagen dienen soll. Wenn Rohner als Bauunternehmer der Haftpflichtgesetzgebung unterstellt sein soll, so kann dies nur auf Grund der eingangs erwähnten Bestimmung des erweiterten Haftpflichtgesetzes vom Jahre 1887 der Fall sein.

Gegen die Unterstellung Rohners unter dieses Gesetz spricht der Umstand, daß derselbe in Anbetracht seiner gesamten Berufstätigkeit nicht als ein Bauunternehmer bezeichnet werden kann, daß er das Bauen nicht gewerbsmäßig betreibt, den in Frage

401 stehenden Neubau vielmehr nur zu seinem persönlichen Bedarf» aufführen ließ.

Dieser Umstand allein kann indessen weder zur Bejahung noch zur Verneinung der zu beantwortenden Frage führen; daß der Baubetrieb sich als das Gewerbe des Arbeitgebers darstelle, wird vom Gesetze nicht verlangt. Wenn das Gesetz in Art. l, Ziffer 2, litt, a, von B a u g e w e r b e spricht, so sind darunter die zu diesem Gewerbe gehörenden Arbeiten zu verstehen, wie der Fortgang der Stelle beweist, gleichviel, ob dieselben gewerbsmäßig vorgenommen werden oder nicht; in den folgenden Absätzen des Artikels ist denn auch stets auf die technische Natur der ausgeführten Arbeiten, nicht auf das Gewerbsmäßige der Unternehmung abgestellt. Es soll gewiß jeder Eisenbahn-, Tunnel-, Straßen-, Brücken-, Wasser- und Brunnenbau, bei dem mehr als fünf Arbeiter beschäftigt werden, dem Haftpflichtgesetze unterstellt sein.

Die Gefährlichkeit solcher Arbeiten ist es, die den Gesetzgeber veranlaßt hat, das Haftpflichtgesetz anwendbar zu erklären, und wer solche Arbeiten in größerem Umfange vornimmt, soll gegenüber den von ihm beschäftigten Arbeitern gegebenen Falls haftpflichtig sein; er betreibt ein haftpflichtiges ,,Gewerbe" im Sinne des Gesetzes.

Für diese Auslegung spricht ferner Art. 2, Absatz 2, des Gesetzes von 1887, der die öffentlich-rechtlichen Korporationen für die in Regie ausgeführten Arbeiten haftpflichtig erklärt, ohne Rücksicht darauf, ob sich solche Unternehmungen als ein eigentliches Gewerbe der öffentlichen Verwaltung oder nur als für den gelegentlichen Bedarf des Staats- oder Gerneindehaushaltes ausgeführte Arbeiten, wie z. B. der Bau eines Museums, eines Spitals etc., darstellen. Der Gesetzgeber wollte aber die öffentlich-rechtlichen Körperschaften nicht einem strengern Rechte unterwerfen als die Privatpersonen, sondern nur das für diese geltende, unter Ausschluß widersprechender Normen des kantonalen Verwaltungsrechts, auf jene anwenden.

Nicht jeder Bauherr kann indessen dem Haftpflichtgesetze unterstellt sein, gleichviel welchen Anteil er an den Bauarbeiten nimmt; eine Einschränkung ergiebt sich aus dem Gesetze selbst.

Art. 2, Absatz 2, bezeichnet den Haftpflichtigen, auch wenn er die Ausführung der Arbeiten einem Dritten übertragen hat, als einen ,,Unternehmer". Daß damit nicht bloß der berufsmäßige Unternehmer der in Art. l aufgezählten Arbeiten gemeint sein kann, geht aus dem oben Gesagten hervor ; es kann darunter aber

402 auch nicht jeder Privatmann verstanden werden, der auf seine Kosten einen Dritten mit der Erstellung eines Gebäudes beauftragt.

Maßgebend ist die Stellung, die der Bauherr zur Ausführung der Arbeiten einnimmt, der Anteil, den er an der technischen Leitung nimmt. Überläßt er die technische Oberleitung der Baute dem von ihm beauftragten Dritten, so bleibt er von der Haftpflicht frei; übernimmt er dagegen die Leitung selbst, so geriert er sich nicht mehr als sachunkundiger Privatmann, sondern als ,,Unternehmer"1 im Sinne des Gesetzes und haftet auch als solcher. Dementsprechend erklärt Art. 2, Absatz 2, die öffentlichen Verwaltungen nur dann als haftpflichtig, wenn sie die Arbeiten in Regie ausführen, d. h.

mit selbst gedungenen Arbeitern oder mit Unteraccordanten unter ihrer Oberleitung (Art. 2, Absatz 1). Überläßt sie dagegen die ganze technische Ausführung einem Unternehmer, so trifft sie die Haftpflicht nicht. Auf die bundesgerichtliche Entscheidung vom 19. September 1891 in Sachen Hildebrand gegen Endemann (Band XVII, S. 534) kann nicht abgestellt werden, da in derselben die Frage nicht entschieden wird, ob die Erstellung eines für den eigenen Bedarf des Beklagten bestimmten Baues seine Haftpflicht begründe, wenn er die Arbeiten in Regie durch selbst gedungene Arbeiter ausgeführt hätte.

Im vorliegenden Fall ist Rohner als Bauunternehmer im Sinne des Gesetzes zu betrachten; er stellte die große Mehrzahl der Arbeiter im Taglohn, an und wies ihnen die Arbeit zu ; er behielt, wie nach den Akten anzunehmen ist, die technische Oberleitung in seiner Hand. D e m n a c h war er zur Z e i t des U n f a l l e s dem Haftpflichtgesetze unterstellt.

Mit dieser Beantwortung ist die weitere von den Gerichten zu entscheidende Frage nicht erledigt, ob der Kläger Jäckli einen Haftpflichtanspruch gegen Rohner geltend machen kann oder ob ein solcher Anspruch ausgeschlossen sei, etwa weil Jäckli nicht von Rohner angestellt war oder wegen Selbstverschulden des Verletzten.

Es wird daher e r k a n n t : 1. Es sei der Bauunternehmer Jakob Rohner, von Rebstein, zur Zeit des dem Gottfried Jäckli in dem Neubau der Schifflistickerei in Widnau zugestoßenen Unfalles (3. November 1897) den Bestimmungen des erweiterten Haftpflichtgesetzes vom 26. April 1887 unterstellt gewesen;

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2. Hiervon sei dem Regierungsrate des Kantons St. Gallen unter Zustellung des von ihm eingesandten Aktenmaterials Kenntnis zu geben.

B e r n , den 8. September 1898.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident: Ruffy.

Der I. Vizekanzler : Schatzmann.

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Bundesratsbeschluss über die Frage der Haftpflicht in Sachen des dem Gottfried Jäckli in Widnau (St. Gallen) zugestoßenen Unfalles. (Vom 8. September 1898.)

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14.09.1898

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