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Bericht des

Bundesrates an die Bundesversammlung, betreffend die Bewegung der Italiener in der Schweiz anläßlich der Unruhen in Mailand.

(Vom 13. Juni 1898.)

Tit.

Die schweren Unruhen, welche in jüngster Zeit in Italien, namentlich in Mailand, ausgebrochen, hatten auch eine heftige Bewegung unter den italienischen Angehörigen in der Schweiz zur Folge. In verschiedenen Städten wurden Versammlungen gehalten, Umzüge veranstaltet, Proteste beschlossen gegen das Vorgehen der italienischen Regierung, die Leute aufgereizt, in die Heimat zurückzukehren und den bedrängten Brüdern zu helfen. Es bildeten sich Banden, von Führern geleitet, die das Land durchzogen und ihre Absicht offen kundgaben, nach Italien zu gehen und dort am Kampfe sich zu beteiligen.

Über die thatsächlichen Vorgänge ist an Hand der aus den Kantonen eingegangenen Berichte und der übrigen Akten folgendes zu erwähnen : Die ersten Mitteilungen erhielt die Bundesanwaltschaft am 10. Mai und den folgenden Tagen durch die Polizeidirektionen von Genf und Lausanne.

Genf meldete, daß am 9. Mai, abends, in der Rue Pecolat in Genf eine Italienerversammlung stattgefunden, an welcher 600 bis 700 Italiener, worunter cirka 100 Anarchisten, teilgenommen haben. Es sei beschlossen worden, nach Lugano zu verreisen, dort befinden sich die Chefs der norditalienischen Bewegung; da

753 man nicht nach Mailand könne, werde man die Landschaft durchziehen, die Bauern aufwiegeln und einen neuen Handstreich versuchen. Eine Kollekte für die Reisekosten wurde gemacht und beschlossen, zum Zwecke der weiteren Propaganda eine neue Versammlung auf den 10., abends, einzuberufen. Im weitern wurde mitgeteilt, daß der italienische Arbeitersekretär Vergnanini bereits nach Lugano verreist sei.

Montag den 9. Mai wurde in den Straßen von Lausanne ein Flugblatt verteilt, wodurch die Italiener zu einer Versammlung eingeladen wurden und worin es unter anderai heißt: Italiani, di fronte alle vigliacche repressioni, agli immani assassinii dei fratelli e parenti, noi coscienti dobbiamo recarci colà a vendicare le atrocità d'un governo infame. *) Wegen der großen Zahl der Teilnehmer mußte die Versammlung im Tivoli gehalten werden. Nachdem mehrere Redner die Zustände in ihrer Heimat in düstern Farben geschildert, wurde beschlossen, am folgenden Tage zum Zeichen der Trauer die Arbeit niederzulegen.

Am Dienstag den 10. Mai durchzogen etwa 1500 Manifestanten mit Musik und Fahnen in guter Ordnung die Hauptstraßen der Stadt Lausanne. An der Spitze bemerkte man ein Dutzend Frauen und junge Italiener, welche eine Tafel trugen, auf deren einer Seite stand : Alla frontiera, auf der ändern : Partenza per l'Italia. Im Tivoli, wo der Zug um l1/* Uhr anlangte, hielt ein Depaulis eine Rede, worin er sagte, die Patrioten haben Brot verlangt, man habe ihnen Blei gegeben, Turin sei in Flammen, Florenz im Aufruhr ; unsere Kameraden sterben auf den Barrikaden und rufen uns um Hülfe.

Dann versammelten sich die Italiener auf der Place de la Riponne ; hier wurde eine Depesche der italienischen Genossen von Neuenburg verlesen, nach welcher diese zur 'Heimreise nach Italien entschlossen seien. Der Zug setzte sich dann gegen Lutry in Bewegung und von dort gegen Vevey und Montreux ; beim Abmarsch von Lutry zählte derselbe cirka 500 Teilnehmer. Die Absicht der Leute war zuerst, über Martigny gegen die italienische Grenze zu ziehen, sie wurden dann aber ändern Sinnes; nachdem sie die Nacht vom Dienstag auf Mittwoch, 10./ll., in Montreux zugebracht, kehrten sie nach Vevey zurück, suchten dort die Arbeits*) Italiener! Angesichts der niederträchtigen Unterdrückung und des grausamen Hinmordens unserer Brüder und Blutsverwandten ist es unsere Gewissenspflicht, hinzueilen und für die scheußlichen Thaten einer infamen Eegierung Rache zu nehmen.

754 platze ab, in dem Bestreben, ihre Landsleute zum Mitgehen zu veranlassen.

Von Vevey marschierten sie nach Chexbres, woselbst sie um 11 */2 Uhr eintrafen. Um die Zahl der erforderlichen Eisenbahnbillette festzustellen, passierten die Leute das bei der Station Chexbres befindliche Drehkreuz, wobei sich ergab, daß.

die inzwischen auf 700 angewachsene Schar auf 310 zusammengeschmolzen war. Mit einem Kollektivbillet für 350 Personen fuhr die Kolonne um 2 Uhr 47 nach Romont. Vor der Abfahrt von Chexbres gab Peduzzi, einer der Führer, folgendes Telegramm zur Spedition : Redazione giornale socialista, Lugano.*) Migliaia marciano Gottardo. Guai chi tradisce raccomandandocalma. Telegrafateci Berna.

Peduzzi.

Von der Polizeidirektion in Lausanne erhielten wir am 11.

folgendes Telegramm: 350 Italiens ont pris à Chexbres le train de 3 heures pour Romont, continueront probablement sur Berne, où ils arriveraient à 5 heures. **) Unmittelbar nach Erhalt der oben erwähnten Mitteilungen gab die Bundesanwaltschaft der Polizeidirektion von Tessin Kenntnis von den Vorgängen und ersuchte dieselbe, sowie die obersten Polizeibehörden der Kantone Zürich, Bern, Baselstadt, Wallis, Waadt, Freiburg und Neuonburg, den in ihrem Gebiet sich aufhaltenden Italienern ihre besondere Aufmerksamkeit zu schenken und von allen Beschlüssen und Vorgängen, die mit der fraglichen Bewegung in Zusammenhang stehen, möglichst rasch Mitteilung zu machen.

Am Donnerstag den 12. Mai wurde der Bundesanwaltschaft gemeldet, daß am 11. Mai, nachts 11 Uhr 13 Minuten, mit der Eisenbahn von Freiburg her 395 Italiener, worunter 7 Frauen, unter der Führung des Peduzzi in Bern eingetroffen seien und in der städtischen Reitschule übernachtet haben.

Redaktion des Sozialistenblattes. Lugano.

*) Tausende marschieren Gotthard. Wehe dem Verräter, der Ruhe empfiehlt. Telegraphiert uns nach Bern.

Peduzzi.

**) 350 Italiener haben in Chexbres Zug 3 Uhr nach Romont genommen, werden wahrscheinlich nach Bern weiterfahren und dort etwa 5 Uhr anlangen.

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Betreffend den Durchzug der Italiener durch Freiburg telegraphierte die dortige Polizeidirektion : Mercredi soir (11 mai) environ 400 Italiens sont arrivés en notre ville, puis sont partis pour Berne par train de 10 heures. Tout ce monde était convenable et relativement calme, ils n'avaient pas d'armes. Interrogés, ils disaient qu'ils trouveraient des armes à la frontière, on les leur avait promis. Une quinzaine d'ouvriers de Fribourg se sont joints à la colonne, les autres ouvriers sont calmes et attendent les événements. *) In einem Schreiben vom 13. Mai wird bemerkt, daß die Italiener am Abend des 11. zu Fuß von Romont her kommend in Freiburg eingetroffen seien und von abends 8 bis 10 auf der Station geblieben seien, wo Brot unter sie verteilt wurde. Mit einem Gesellschaftsbillet für 390 Personen habe die Kolonne um 10 a/4 mit der Eisenbahn die Reise nach Bern fortgesetzt.

Einige Agitatoren seien in Freiburg zurückgeblieben, um die dortigen Italiener zum Mitgehen zu veranlassen, allein nur etwa 15 Mann leisteten dem Heerruf Folge.

Am Donnerstag den 12., abends, wurde von der Bundesanwaltschaft an die obersten Polizeibehörden der Kantone Zürich, Luzern, Basel, St. Gallen, Graubünden, Genf, Neuenburg, Waadt und Freiburg telegraphiert : ,,Wir ersuchen Sie, allfällig bewaffnete, gegen die Grenze ziehende Italienerabteilungen anhalten und entwaffnen zu lassen.

Ebenso bitten wir Sie um telegraphischen Bericht über alle Bewegungen der in Ihrem Kanton wohnenden oder denselben durchziehenden Italiener.a Als die Italiener, wie oben bemerkt, von Freiburg her am Mittwoch den 11., abends 11 Uhr 13 in Bern eintrafen, wurden sie von der städtischen Polizei auf dem Bahnhof in Empfang genommen und in die städtische Reitschule geführt, wo sie die Nacht, zubrachten. Am folgenden Tag, den 12. Mai, vormittags, veranstalteten sie einen Umzug, um ihre hier wohnenden Landsleute zu veranlassen, sich ihnen anzuschließen. Ein Flugblatt wurde verteilt mit folgendem Inhalt: *) Mittwoch abends (11. Mai) sind ungefähr 400 Italiener in hiesiger Stadt angelangt, hierauf mit dem 10 Uhr Zuge nach Bern weitergereist. Alles benahm sich anständig und verhältnismäßig ruhig; sie hatten keine Waffen.

Auf Befragen gaben sie zum Bescheid, sie würden an der Grenze "Waffen finden, man habe sie ihnen zugesagt. Ungefähr 15 Freiburger Arbeiter schlössen sich ihnen an, die ändern blieben ruhig und warten die Ereignisse ab.

756 I vostri fratelli muoiono, e combattono per la libertà, per la socializzazione degli uomini e del sistema. Chi di voi avrebbe il coraggio di abbandonarli in mano alla decrepita borghesia italiana che tenta colla forza brutale del cannone reprimere il diritto e soffocare le coscenze?

Nessuno. Lo spero. Avanti, compagni, scuotete l'apatia che vi domina e venite con noi a pugnare per voi e per tutti.

Sia un sol grido : Alla frontiera. Viva la Repubblica sociale italiana. *) Ein angeschlagenes Plakat, das eine heftige Sprache gegen Italien führte und zum Vorwärtsgehen aufforderte, wurde von der Polizei entfernt.

Da infolge der schlechten Witterung auf den Bauplätzen nicht gearbeitet wurde, so war einiger Zux.ug aus den hiesigen Italienerkreisen bemerkbar. Nach dem Umzug wurde das Hauptquartier im Volkshaus aufgeschlagen, und es begannen die Verhandlungen mit der Bahnverwaltung bezüglich der Weiterreise nach Luzern. Die Unterhandlungen zogen sich in die Länge, da die Italiener nicht über die nötigen Geldmittel verfügten. Inzwischen waren mit dem in Bern 5 Uhr nachmittags eintreffenden Genferzuge von Lausanne her noch weitere 85 Mann angelangt, welche am Bahnhof abgeholt und im Zuge durch die Stadt nach dem Volkshaus geleitet wurden. Die Zahl der dort um 6 Uhr abends anwesend gewesenen Italiener dürfte 6--700 betragen haben.

Mit Hülfe der Arbeiterunion Bern gelang es, das Geld zusammenzubringen, so daß ein Extrazug für 600 Personen bestellt werden konnte. Der Zug ging Freitag den 13., morgens 4 Uhr 40, nach Luzern ab und war von cirka 500 Mann besetzt.

Die Aufführung dieser Leute in Bern hat im allgemeinen zu keinen Klagen Anlaß gegeben. Bei ihren Umzügen trugen sie zwei rote Fahnen mit schwarzen Schleifen und eine Standarte mit der Aufschrift : Alla frontiera. Die Führer waren mit roten *) Eure Brüder sterben im Kampfe für die Freiheit, für die sociale Umgestaltung der Menschheit und der Weltordnung. Wer von euch hätte, den Mut, sie den Händen der entarteten italienischen Bourgeoisie zu überlassen, welche mit der rohen Gewalt der Kanonen das Recht und Gewissen zu unterdrücken und ersticken sucht?

Keiner, hoffe ich ! Auf, Genossen ! Schüttelt die Gleichgültigkeit ab, die auf euch lastet, kommt mit uns zum Kampfe für euch und für die Gesamtheit!

Ein einziger Ruf erschalle : An die Grenze ! Es lebe die sociale italienische Republik !

757 Schärpen geschmückt. Es wurde konstatiert, daß bei zwei Büchsenmachern der Stadt je 10 bis 12 Revolver der geringsten Sorte, zum Preise von 6--7 Franken das Stück, von Italienern gekauft wurden; sie verlangten auch Messer, aber erhielten keine in der von ihnen gewünschten Länge.

Peduzzi, der Führer der Kolonne, äußerte sich, es sei noch unsicher, M'o man die italienische Grenze überschreiten werde. In Luzern werde die Kolonne einen Aufenthalt machen, um Zuzug abzuwarten. Im Veltlin werden sich 2000 streikende Steinbrecher den Aufständischen anschließen. Wenn der Plan reüssiere, werde man ganz Italien durchziehen mit Morden und Brennen.

Von der Abreise der Italiener von Bern wurden die Polizeidirektionen von Luzern und Tessin durch die Bundesanwaltschaft telegraphisch avisiert.

Das Polizeidepartement Luzern meldete am Freitag den 13.

telegraphisch, daß die Kolonne Peduzzi um 7 Uhr 35 Minuten morgens von Bern herkommend in Luzern eingetroffen sei. Von den 543 Italienern hätten 140 keine Billette gehabt. Geld für die Weiterreise fehle gänzlich.

Schon Donnerstag den 12. gelangte in Luzern ein in deutscher Sprache verfaßtes Flugblatt zur Verteilung, in welchem die italienischen Zustände in bekannter Weise geschildert, die Regierung angegriffen wird, und worin es zum Schlüsse heißt: ,,Wir sind entschlossen, unsern bedrängten Brüdern in Italien zu Hülfe zu eilen, und ersuchen die hiesige Einwohnerschaft um Unterstützung mit Geld und Waffen, wie es die Bürger von Montreux, Vevey, Genf und Lausanne auch gethan haben.

Die hier niedergelassenen Italiener."

Aus einem später eingegangenen Berichte des luzernischen Polizeidepartements ist über das Verhalten der Italiener in Luzern folgendes zu erwähnen : Die Italiener erklärten nach ihrer Ankunft in Luzern, nach ihrer Heimat Weiterreisen zu wollen. Angesichts des Umstandes, daß cirka 140 Mann die Fahrt von Bern nach Luzern ohne Billette, also ohne Bezahlung der Fahrtaxe, zurückgelegt hatten, verlangte der Bahnhofvorstand von Luzern, daß die Leute in der Perronhalle polizeilich zurückbehalten werden, bis sämtliche Fahrtaxen bezahlt seien. Gleichzeitig veranlaßte derselbe die städtische Polizei, den Peduzzi in Haft zu nehmen und gleichsam als Geisel bis zur Bezahlung der nicht gelösten Billette zurückzubehalten. Das kantonale Polizeidepartement hob diese Verfügungen auf, einmal weil

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dieselben bei der erregten Stimmung der Italiener hätten Ausschreitungen veranlassen können und weil nach seiner Ansicht die Regelung der Fahrtaxenangelegenheit nicht Sache der Polizei sei, da man in Bern Gelegenheit gehabt hätte, das Mitfahren unbefugter Personen zu verhindern.

Die Italiener konnten den Bahnhof verlassen, und Peduzzi wurde in Freiheit gesetzt. Die Kolonne zog hierauf in die Löwengartenhalle, um dort einen großen Teil des Tages zu verbringen.

Einige der Führer hielten Ansprachen, die ziemlich aufreizend gewesen sein sollen. Einzelne Gruppen zogen in der Stadt herum, dieselben waren durchaus ruhig und ließen sich keine Ausschreitungen zu schulden kommen, namentlich versuchten sie nicht, etwa ihre auf den Arbeitsplätzen beschäftigten Landsleute zur Arbeitsniederlegung zu veranlassen. Nach verschiedenen Verhandlungen mit den städtischen Behörden und der Gotthardbahn entschloß sich das kantonale Polizeidepartement, die Abschiebung der Italiener in drei Abteilungen von je 200 Mann mit den fahrplanmäßigen Zügen vorzunehmen. 200 Mann sollten mit dem Abendzuge 10 Uhr 10 Min. abreisen, die ändern 350 bis 400 Mann die Nacht in der polizeilich bewachten Reitbahn verbringen, um am nächsten Tage mit den Zügen 6 Uhr 55 Min. und 11 Uhr 15 Min. weiterzureisen. Die Regierungen von Sehwyz, Uri und Tessin wurden von diesem Vorhaben telegraphisch verständigt. Allein es war unmöglich, die getroffenen Anordnungen zur Ausführung zu bringen, da die Italiener sich weigerten, in getrennten Gruppen die Heimreise anzutreten. Sie erklärten, nur gemeinschaftlich abreisen zu wollen.

An dieser Erklärung hielten sie mit Hartnäckigkeit fest und wurden darin von ihrem Führern bestärkt. Speciell Peduzzi war es, der sich alle Mühe gab, die Leute davon abzuhalten; dabei geriet er in solchen Eifer und ging so weit, daß das Polizeidepartement nahe daran war, denselben festnehmen zu lassen.

Etwas nach Q1/^ Uhr abends entschloß sich plötzlich das Gros, die Weiterreise zu Fuß anzutreten. In aller Ruhe und ohne Lärm schlugen die Leute den Weg nach Meggen und gegen die Schwyzergrenze ein. Das Polizeidepartement ließ Polizei folgen mit dein Auftrag, das Einschieichen allfälliger Nachzügler in Häuser und Scheunen zu verhindern · die Polizei hatte indes keine große Arbeit, da die Leute ruhig und geordnet weiterzogen. Etwa
70 Mann waren abends 10 Uhr 10 Min. mit dem Gotthardzug verreist; am folgenden Morgen folgten ihnen cirka 30 Mann mit dem Dampfschiff bis Flüelen nach. Der Regierungsrat von Luzern gab dem Bundesrat von diesen Vorgängen Kenntnis mit Telegramm vom 14. :

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Gestern avisierte Italienerabreise hat nicht stattgefunden. Italiener widersetzten sich der truppweisen Abschiebung und insistierten auf gemeinsamer Heimreise. Da letztere verweigert wurde, marschierten sie über Meggen gegen den Kanton Schwyz ; 57 Mann reisten mit Zug 10.10 ab ; etwa 70 diesen Morgen nach Bern zurückgekehrt. Ordnung in keiner Weise gestört.

Hierauf wurde vom Bundesrat am 14., mittags, an den Regierungsrat von Schwyz folgendes Telegramm gesandt : Ungefähr 400 Italiener marschieren über Meggen nach dem Kanton Schwyz und werden suchen, von da aus mit der Gotthardbahn die Grenze zu gewinnen. Wollen Sie dafür besorgt sein, daß die Weiterfahrt dieser Leute nur in Gruppen von nicht über 150 Mann stattfindet. Wollen Sie uns und die Regierungen von Uri und Tessin über die weitern Vorgänge unterrichtet halten.

Am gleichen Tag antwortete der Regierungsrat von Schwyz telegraphisch : Letzte Nacht reisten cirka 500 Italiener bei Küßnacht vorbei, um 10 Uhr nachts benützten 150 den Gotthardzug in Goldau, und heute mittag 12 Uhr 20 sind daselbst wieder 216 Mann eingestiegen; das ist vorläufig alles.

Im Kanton Tessin war keine besondere Bewegung bemerkbar; es hielten sich allerdings viele Flüchtlinge dort auf, aber sie verhielten sich ruhig. In einer Besprechung, die Donnerstags den 12. Mai in Bellinzona zwischen Herrn Bundesrat Brenner und den Herren Staatsratspräsident Curti und Staatsrat Colombi stattfand, hatte man sich dahin verständigt, es sei Sorge zu tragen : 1. daß weder Waffen noch Munition im Kanton zur Verteilung gelangen ; 2. daß die aus den innern Kantonen ankommenden Italiener entweder zur sofortigen Rückkehr oder zur sofortigen Fortsetzung der Reise veranlaßt werden, um die Ansammlung größerer Massen zu verhindern ; 3. daß den bekannten Führern (Vergnanini, Rondani u. a.) und den Herausgebern des ,,Socialista" bedeutet werde, revolutionäre Umtriebe im Kanton Tessin zu unterlassen, sich des Asyls durch ihr Verhalten würdig zu erweisen und ihren Einfluß bei den durch die neuesten Vorgänge und Berichte aus Italien allarmierten und exaltierten Italienern zur Beruhigung der Gemüter geltend zu machen ; 4. daß der Bundesrat von allen Vorgängen, welche für die Landesregierung zu wissen notwendig sei, rechtzeitig unterrichtet werde.

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Herr Bundesrat Brenner berichtete am 12. Mai dem Bundesrat telegraphisch : ,,Besprechung mit Curti und Colombi ergiebt, daß Regierung willens ist, alle durch Umstände gebotene Maßregeln zu treffen. Gegenwärtige Situation nicht beunruhigend. a Um für alle Eventualitäten gerüstet zu sein, stellte die Regierung von Tessin das Bataillon 96 aufs Piquet. Am 12. Mai, nachmittags, telegraphierte die Direktion der Gotthardbahn : ,,Laut Mitteilung der Nordostbahn sollen 3000 italienische Arbeiter heute nacht zum Transport nach Lugano angemeldet sein. Werden Transport ausführen, wenn nicht andere Verfügung getroffen wird." Es wurde ihr von uns geantwortet : ,,Ensuite de votre communication, nous vous invitons à ralentir le plus possible le transport des Italiens et à faire en sorte qu'il n'en passe pas plus de mille par le Gothard avant demain midi.a *} Nachträglich wurde berichtet, daß nur 110 Italiener sich zur Reise nach Lugano angemeldet haben.

Mit Telegramm vom 13. Mai berichtete der Staatsratspräsident an den Bundespräsidenten : ,,La notte passò tranquilla. Arrivarono dall' interno della Svizzera 240 Italiani. Avvertiti che non potevano fermarsi, proseguirono per Chiasso o Luino passando confine. Rapporti da Chiasso, Mendrisio, Lugano, Locamo notano quiete assoluta. Truppe italiane occupano confine Chiasso. Nel Mendrisiotto non vi sono più di 20 rifugiati, a Lugano saranno più numerosi, a Locamo nessuno.

Se oggi sarà segnalato nuovo arrivo treno italiano, si leverà una compagnia di fanteria per rinforzare polizia. Nessun indizio esiste che gli Italiani abbiano tentato di fare acquisto armi e munizioni nel nostro cantone. Trenta operai di quelli arrivati stanotte trovansi qui a Bellinzona senza mezzi e verranno oggi in via di polizia diretti oltre confine per Locamo e Luino. Prego ordinare ferrovia Gottardo segnalarci telegraficamente da Goldau o da Goschenen simili trasporti se ancora avverranno. "·**) *) Gestützt auf Ihre Mitteilung laden wir Sie ein, den Transport der Italiener möglichst zu verlangsamen und dafür zu sorgen, daß vor morgen Mittag deren nicht mehr als 1000 den Gotthard passieren.

**) Die Nacht verging ruhig. Aus der luncrschweiz langten 240 Italiener an. Auf die Weisung, daß sie nicht anhalten könnten, setzten sie ihre Fahrt nach Luino und Chiasso fort und überschritten die
Grenze. Berichte aus Chiasso, Mendrisio, Lugano, Locamo melden absolute Ruhe. Italienische Truppen halten in Chiasso die Grenze besetzt. Im Bezirk Mendrisio befinden sich nicht mehr als 20 Flüchtlinge, in Lugano ist eine größere Zahl, in Locamo keiner. Falls heute ein neuer Italienerzug gemeldet wird, wird eine Compagnie Infanterie zur Verstärkung der Polizeimacht aufgeboten werden. Es bestehen keinerlei Anzeichen dafür, daß die Italiener den Versuch gemacht

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Nach diesen Berichten konnte man annehmen, daß der Durchzug der nach ihrer Heimat ziehenden Italiener im Kanton Tessi n in aller Ruhe und Ordnung sich vollziehen werde -- und noch am Vormittag des 14. hatte Herr Staatsratspräsident Curti gegenüber Herrn Bundesrat Brenner, unmittelbar vor dessen Rückreise, die Hoffnung ausgesprochen, es werde gelingen, die inzwischen avertierten Italiener zur Rückkehr oder zur Fortsetzung der Reise bis an die Grenze zu bewegen, ohne daß ein militärisches Aufgebot notwendig werde.

Von der Absicht geleitet, größere Ansammlungen an der Grenze nicht zu dulden, wurden jeweils sich bildende Trupps aufgelöst, indem die einen wieder zurückkehrten, andere veranlaßt wurden, ihre Reise fortzusetzen und wieder andere als Mittellose abgeschoben wurden. Und wenn dieses an sich zweckmäßige Verfahren nicht bis zu Ende ohne Gewalt durchgeführt werden konnte, so lag der Grund darin, daß die von Peduzzi geführte Kolonne den bezüglichen Anordnungen sich widersetzte.

Am 14., 10 Uhr vormittags telegraphierte der Staatsratspräsident von Tessin an den Bundespräsidenten : ,,Sessanta Italiani arrivati con treno 55 questa notte Airolo rifiutano proseguire viaggio dicendo volere attendere compagni per concentrarsi. Ordinai di nuovo che debbano proseguire al confine o retrocedere. Prego ordinare truppe Fondo del Bosco prestar mano forte e sostegno alla polizia ed a darci qualche istruzione per norma nostra, essendo pericoloso anche per nostro cantone in questi momenti tollerare disoccupati e sediziosi nel paese.'1*) Diese 60 Italiener konnten jedoch bewogen werden, den Verfügungen nachzukommen, was aus folgendem Telegramm des Staatsratspräsidenten vom 14., vormittags 10 Uhr 35, hervorgeht: hätten, in hiesigem Kanton Waffen und Munition anzukaufen. 30 voa den gestern angekommenen Arbeitern befinden sich mittellos hier in Bellinzoua und werden heute polizeilich über Locamo und Luino über die Grenze abgeschoben. Ich bitte, der Gotthardbahngesellschaft Weisung zu erteilen, uns telegraphisch mitzuteilen, ob weitere ähnliche Transporte von Goldau oder Gesehenen aus in Aussicht stehen.

*) 60 heute Nacht mit Zug 55 in Airolo angekommene Italiener weigern sich, die Fahrt fortzusetzen, unter der Angabe, daß sie ihre Kameraden abwarten und sich sammeln wollen. Ich erteilte ihnen wiederum die Weisung,
entweder nach der Grenze weiterzufahren oder zurückzukehren. Ich bitte, den Truppen des Fondo del Bosco den Befehl zu geben, der Polizei an die Hand zu gehen und ihr Unterstützung zu leihen, sowie uns irgendwelche Wegleitung für unser Verhalten zu erteilen, da es auch für unseren Kanton gefährlich ist, bei solcher Sachlage arbeitslose und widersetzliche Elemente im Lande zu dulden.

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,.,Trentaquattro da Airolo retrocedettero Goschenen, gli altri acconsentirono a continuare viaggio per Bellinzona. Prego mettere dieci uomini del forte a disposizione polizia per gli altri treni onde facilitare servizio. Nel cantone ed al confine calma." *) Das schweizerische Militärdepartement entsprach dem Wunsche um Verwendung der Forfcwache in Airolo mit Telegramm vom 14. Mai, 12 Uhr mittags: Festungsbureau Andermatt.

Stellen Sie von der Fortwache in Airolo zehn Mann zur Verfügung des Bahnhofvorstandes und der Ortspolizei von Airolo zur Aufrechthaltung der Ordnung bei dort aussteigenden Italienern.

Am gleichen Tag, abends 5 Uhr 20, ging folgendes Telegramm ein: Presidente Consiglio federale Berna.

249 Italiani mancando parola abbandonarono treno Ambri continuando via a piedi. Prego ordinare distaccamento forte Airolo inseguirli e fermarli stazione Faido. Qui entra servizio compagnia che sarà spedita incontro. Ho ordinato sequestro Rondani, Vergnanini e Tedeschi. Prego di nuovo per direzioni.

Curti, près. Governo. **) Um 7 Uhr abends antwortete, in Abwesenheit des Präsidenten, der Vicepräsident des Bundesrates, namens des letzteren : Es ist unmöglich, vom Fort Airolo weitere Mannschaft zu detachieren. Suchen Sie die Kolonne oberhalb Biasca, eventuell jedenfalls vor dem Eingang des Misoxer Thaies durch die Compagnie von Bellinzona abzufassen. Wir empfehlen Ihnen, auch für Lugano Militär aufzubieten. Alle Rädelsführer sind in Haft zu setzen.

Die übrige Mannschaft ist als mittellos in kleinen Trupps an die Grenze zu eskortieren und dort den italienischen Behörden zu übergeben. Nach unsern Berichten scheint dies der letzte Trans*) 34 kehrten von Airolo nach Göschenen zurück, die übrigen willigten ein, die Fahrt nach Bellinzona fortzusetzen. Bitte, 10 Manu vom Fort der Polizei zur Erleichterung des Dienstes für die übrigen Züge zur Verfügung zu stellen. Im Kanton und an der Grenze Ruhe.

**) Bundespräsident Bern. 249 Italiener haben ihr Versprechen gebrochen, in Ambri den Zug verlassen und den Weg zu Fuß fortgesetzt. Bitte, ein Détachement des Fort Airolo mit deren Verfolgung zu beauftragen und sie an der Station Faido anhalten zu lassen. Hier tritt eine Compagnie in Dienst, welche denselben entgegengesandt werden soll. Habe die Verhaftung Rondanis, Vergnaninis und Tedeschis angeordnet. Bitte neuerdings um Instruktionen.

Curti, Reg.-Präs.

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port zu sein, allein es ist nötig, jede Ansammlung zu verhindern.

Gegen Widerstand sind die Waffen zu gebrauchen. Wir gewärtigen Bericht.

Am 14., abends 8 Uhr, erhielt der Bundesanwalt folgendes Telegramm von der Polizeidirektion Tessin: ,,Vergnanini, Tedeschi saranno arrestati stasera. Altri capi socialisti, fra cui deputato Rondani, professore Cabrini, dichiarano voler domani sconfessare il giornale ,,Socialista"1. Offrono loro servizi per far retrocedere oppure avviare al confine operai attualmente in viaggio. Leviamo stasera compagnia battaglione 96 onde incontrare colonna operai discendente su Faido e scortarla fin qui.

Sarebbe opportuno ordinaste immediatamente inchiesta officio telegrafi Lugano onde scoprire autori telegrammi incendiari spediti a Losanna ed altrove."1*) Sonntag vormittags 10 Uhr beantwortete der Bundesanwalt telegraphisch die obige Mitteilung: ,,Polizeidirektion Tessin.

Vergnanini, Tedeschi und allfällig andere Rädelsführer haben im Verhaft zu bleiben. Wir ersuchen Sie, uns telegraphisch mitzuteilen, was Sie veranlaßte, den Verhaft zu verfügen. Die Verhafteten sind über ihr Verhalten einzuvernehmen. Jede Mitwirkung der italienischen socialistischen Häupter bei Verhandlungen mit den Arbeitern ist absolut abzulehnen. Untersuchung wegen der telegrammi incendiari wird eingeleitet."

Dieses Telegramm wurde der Kanzlei des politischen Departements zur Übersetzung und Spedition übergeben. Dort wurde nun ohne Auftrag des Bundesanwaltes folgende Ergänzung hinzugefügt : ,,Confermiamo del resto quanto a operai in viaggio telegramma di jeri del Consiglio federale secondo cui questa banda *) Vergnanini, Tedeschi sollen heute abend verhaftet werden. Andere Socialistenführer, worunter der Abgeordnete Rondani, Professor Cabrini erklären, morgen das Organ ,,Socialista" desavouieren zu wollen. Sie bieten ihre Dienste an, um die unterwegs befindlichen Arbeiter zur Rückkehr oder zur Fahrt nach der Grenze zu bewegen. Diesen Abend berufen wir eine Compagnie Bataillon 96 ein, um der gegen Faido herabmarschierenden Italienerkolonne entgegenzutreten und sie hierher zu eskortieren. Es wäre angezeigt, sofort auf dem Telegraphenbureau Lugano eine Untersuchung zu veranstalten, um die Absender der aufrührerischen Telegramme nach Lausanne und an andere Orte zu ermitteln.

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deve essere scortata militarmente al confine e consegnata alle autorità italiane.a*) Über die Vorgänge, die Anlaß zu dem Depeschenwechsel gaben, berichtet der Commissario di Governo der Leventina folgendes : Am Samstag nachmittag den 14. Mai seien mit dem Zug 3.40 250 italienische Arbeiter angekommen, die ihr Billet nur bis Airolo hatten. Er habe sie gefragt, woher sie kommen und warum in Masse und welche Absicht sie hätten ; sie haben ihm geantwortet, sie seien ohne Arbeit und ohne Mittel und wollen nach Hause, indessen wollen sie vorläufig in Airolo bleiben. Er habe ihnen erklärt, daß sie in Airolo nicht bleiben können, er wolle sich aber verwenden, daß sie zurückkehren können oder bis nach Beüinzona reisen, wo ihnen der italienische Konsul oder allfällig die Regierung helfen werde. Sie haben aber diese Vorschläge alle abgelehnt, und er habe sie schließlich entschieden aufgefordert, in den Zug zu steigen und abzureisen, mit dem Beifügen, wenn sie nicht gutwillig folgen, so werde er Gewalt anwenden. Da alles vergeblich gewesen, so habe er einem Pikett Militär aus dem Fort den Auftrag gegeben, die Leute zu zwingen, den Zug zu besteigen, was auch geschehen sei. Als sie abfuhren, haben sie ihn beschimpft und gedroht, er werde schon einmal unter ihre Hände kommen.

Als er noch in der Station gewesen sei, habe er die Nachricht erhalten, daß alle auf der Station Ambri in aller Eile ausgestiegen seien und den Weg zu Fuß fortsetzten. Er habe sofort nach Faido telegraphiert und die Gemeindebehörde aufgefordert, die Soldaten der Gemeinde aufzubieten, soweit es zur Überwachung notwendig sei. Dies sei geschehen und die Italiener aufgehalten und für die Nacht unter Bewachung im Asilo enfantile untergebracht worden.

In Faido wurden sie am Morgen in der Frühe von einer Compagnie Soldaten, die in der Nacht von Bellinzona hergekommen, auf die Station begleitet.

Auf der Fahrt lärmten die Leute und O ließen Revolverschüsse los. In Biasca wollten Peduzzi und andere aussteigen und als man sie daran hinderte, beschimpften sie die Truppe (briganti, servi della rnonarchia, gente venduta). Zwischen Biasca und Bellinzona wurden wieder Revolverschüsse abgefeuert, namentlich in der Nähe der Cave di granito di Osogna. In Bellinzona wurden den Leuten in der Kaserne Brot und Wurst gegeben.

*) Im übrigen bestätigen wir,
soweit es die unterwegs befindlichen Italiener betvifi't, das gestrige Telegramm des Bundesrates, gemäß welchem jene Bande unter militärischer Bedeckung an die Grenze verbracht und den italienischen Behörden übergeben werden soll.

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Bei der Untersuchung fand man auf diesen Leuten Waffen (Messer, Revolver), die man ihnen abnahm. Nach den Aussagen der Soldaten haben verschiedene Italiener auf der Fahrt von Faido nach Bellinzona Waffen zum Fenster hinausgeworfen. Es war also ein nicht ganz ungefährliches Volk, was namentlich auch aus den Aussagen eines Verhafteten hervorgeht, der über die Gespräche seiner Genossen angefragt, erklärte : ,,Che lo scopo di questi era di recarsi in Italia per incendiare le chiese, le case dei ricchi, prenderne il denaro ed uccidere quelli che si sarebbero rifiutati."*) Die Truppe begleitete den Zug bis nach Chiasso, wo auf der Grenze die Übergabe an die italienischen Behörden stattfand.

Der Staatsratspräsident telegraphierte an den Bundesrat am 15., um 3 Uhr 30 M.: ,,Consegna in Chiasso avvenne regolarmente senza incidenti ore 2Ys.a **) Die Abschiebung dieser Italiener, die durchaus ohne Subsistenzmittel waren, die sich weigerten zurückzukehren, um allfällige Arbeit zu suchen, die den Befehlen und Weisungen der Behörden entgegenhandelten, war offenbar zulässig und auch angezeigt.

Es waren die gleichen Leute, die schon in Luzern den Anordnungen der Behörde sieh widersetzten ; was in Luzern ungefährlich war, war es im Tessin nicht mehr ; man konnte diese aufgeregten Leute nicht frei gewähren lassen ; man durfte nicht dulden, dass sich im Kanton weitere Ansammlungen bildeten und die dort wohnenden Italiener in die Bewegung hineingezogen würden.

Peduzzi hat in seiner Einvernahme offen erklärt, sie haben den Zug verlassen, um ohne Hindernis das Land zu durchziehen und sich organisieren zu können. Da die Leute sich hartnäckig weigerten, zurückzukehren, und auch ihre Reise nicht mit der Eisenbahn fortsetzen wollten, blieb nichts anderes übrig, als Gewalt anzuwenden. Die Verwendung der Truppe war notwendig mit Rücksicht auf die erhebliche Anzahl der Italiener und deren bisheriges Verhalten, und eine förmliche Übergabe an die italienischen Behörden empfahl sich, um einen allfälligen Konflikt dieser Leute mit der italienischen Polizei oder mit dem Militär zu verhüten, das leicht schwerere Folgen hätte nach sich ziehen können.

*) Sie wollten sich nach Italien begeben, um die Kirchen und die Häuser der Reichen anzuzünden und auszuplündern und diejenigen, welche Widerstand leisten würden, niederzumachen.

**) Übergabe in Chiasso ist regelrecht und ohne Zwischenfall um 2'/2 Uhr erfolgt.

Bundesblatt. 50. Jahrg. Bd. IH.

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Nach Eingang der Einvernahmeprotokolle und auf Grund weiter gemachter Erhebungen wurde sub 20. Mai der gegen Verganini und Genossen angeordnete Verhaft aufgehoben. Auch andere Verhaftete wurden sub 21. Mai, gestützt auf die eingelangten Berichte, auf freien Fuß gesetzt, mit Ausnahme des Führers Peduzzi, der durch Beschluß des Bundesrates vom 27. Mai aus der Schweiz ausgewiesen wurde.

In Genf wurden am 10. und 11. Mai größere Versammlungen gehalten und Umzüge veranstaltet mit den bekannten Reden, in denen die italienischen Arbeiter aufgefordert wurden, nach der Grenze zu ziehen. Am Donnerstag, morgens l Uhr, verreisten 160 Italiener von Genf nach Lausanne, denen sich auf dem Wege noch 20 Mann anschlössen, in der Absicht, durch das Wallis über den Simplon nach Italien zu kommen. Wie die Polizei erst nach der Abreise erfuhr, führten dieselben 50 Revolver mit, die sie bei verschiedenen Händlern in Genf gekauft hatten. Um 5 Uhr 15 morgens verreisten diese Leute mit einem Kollektivbillet nach Brig.

Mittags 11 Uhr erhielt das Justiz- und Polizeidepartement vom Polizeidepartement des Kantons Wallis folgendes Telegramm : ,,200 Italiens armés ont passé aujourd'hui gare Sion, direction Simplon. Vous laisserons soin aviser autorités italiennes.u *) Hierauf haben wir sogleich telegraphisch verfügt: ,,Gouvernement Valais, Sion. Prenez toutes les mesures pour empêcher les deux cents Italiens d'avancer armés vers la frontière italienne. Voyez à les arrêter et à les désarmer. Renseignez-nous télégraphiquement.a **) Der Staatsrat antwortete am gleichen Tag, nachmittags 4 Uhr 30 Minuten: ,,180 ouvriers italiens ont quitté Brigue midi pour Simplon.

us disaient être armés de revolvers et couteaux, ils se sont bien conduits à Brigue. Votre ordre arrivé tardivement. "·***) *) 200 bewaffnete Italiener haben heute Bahnhof Sitten, Richtung Simplon, passiert. Überlassen es Ihnen, italienische Behörden zu benachrichtigen.

**) Regierung Wallis, Sitten. Treffen Sie alle erforderlichen Maßnahmen, um die 200 bewaffneten Italiener am Marsche nach der Grenze zu verhindern.

Suchen Sie, dieselben anzuhalten und zu entwaffnen. Berichten Sie telegraphisch.

***) 180 italienische Arbeiter diesen Mittag von Brig nach dem Simplon abmarschiert. Sie erklärten, mit Revolvern und Messern bewaffnet zu sein.

In Brig haben sie sich ruhig benommen. Ihre Weisung zu spät eingetroffen.

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Wie es vorauszusehen war, gelang es dieser Bande nicht, nach Italien zu kommen, weil die Grenze von italienischem Militär besetzt war.

Unterm 13. wurden von der Regierung von Wallis Nachrichten verlangt betreffend den Marsch der Kolonne über den Simplon.

Die Regierung von Wallis meldete mit Telegramm vom 14. : ,,Sur les ouvriers italiens dirigés Simplon, 30 ont passé frontière, 8 restés Gondo et 170 hospice. Iselle occupé par 600 Alpins."*) Hierauf antwortete der Vizepräsident des Bundesrates namens desselben mit Telegramm vom 14. Mai: ,,Staatsrat Wallis. Wir betrachten längeres Verbleiben der ITO Italiener auf dem Simplonhospiz als unzulässig. Wollen Sie Schritte thun, um diese Schar zur Rückkehr zu bestimmen oder sie aufzulösen. Wir gewärtigen Bericht.tt Am 16. berichtete das Polizeidepartement von Wallis: ,,Bande ouvriers italiens au Simplon dispersée. 45 partis samedi pour Genève, 40 pour Brigue et les autres ont passé la frontière isolément. Aucun désordre."1 **) Am 12. und 13. Mai wurden auch in Neuenburg und Chauxde-Fonds Versammlungen veranstaltet, wozu durch Flugblätter eingeladen wurde, worin es unter anderm hieß : ,,Noi le prime vittime di un sistema di governo indegno del nostro secolo ; noi che dobbiamo abbandonare ogni anno patria, genitori, spose e figli per procurarci ali' estero un nerissimo tozzo di pane, noi che sappiamo quanto disprezzo ispira ali' estero il nome Italiano, noi saremmo indegni di essere chiamati uomini se non affermiamo altamente la nostra solidarietà coi ribelli affamati e coi mitragliati di tutte le città d'Italia.a ***) *) Von den nach dem Simplon marschierenden Italienern haben 30 die Grenze überschritten, 8 sind in Gondo, 170 auf dem Hospiz geblieben. Iselle von 600 Alpini besetzt.

**) Bande italienischer Arbeiter am Simplon aufgelöst. 45 Samstags nach Genf, 40 nach Brig verreist, Rest einzeln die Grenze überschritten.

Keine Ruhestörungen.

***) Wir, die ersten Opfer eines unseres Jahrhunderts unwürdigen Regierungssystems ; wir, die wir alljährlich Vaterland, Eltern, Frauen und Kinder verlassen müssen, um im Auslande unser hartes Stück Brot zu erwerben, wir, die wir wissen, welche Verachtung im Auslande schon dem bloßen Namen ,,Italiener" zu teil wird, wir wären nicht würdig, Männer zu heißen, wenn wir nicht mit lauter Stimme unsere Solidarität mit den durch den Hunger zur Empörung Gebrachten und mit den in den Städten von ganz Italien niederkartätschten Brüdern proklamierten.

768 Auch die Umzüge fehlten nicht ; die bekannten Reden wurden gehalten, und für die Abreisenden wurde Geld gesammelt. Nur einige wenige (18 Mann) verreisten. Die öffentliche Ruhe und Ordnung wurde nirgends gestört.

In Zürich wurde bereits am 10. Mai eine Versammlung gehalten, an welcher 500 Italiener teilnahmen. Am 11. Mai fanden zwei Versammlungen statt. Bei derjenigen in Außersihl, von 600 Italienern besucht, herrschte eine begeisterte Stimmung. Das Komitee erklärte sich in Permanenz und warnte vor Ausschreitungen auf dem Gebiete der Stadt Zürich. Resolutionen wurden keine gefasst, immerhin sollte erforscht werden, ob eine Überschreitung der italienischen Grenze möglich sei. Es folgten Aufmunternngeri zur Abreise, mit dem Ruf: wer nicht folge, sei ein feiger und nichtsnutziger Kerl.

Einzelne Italiener verreisten.

Am Donnerstag abend unterhandelte ein Komiteemitglied mit der Nordostbahn betreffend Extrazüge. 3000--4000 Italiener würden abreisen. Aber, wie es scheint, fehlte das Geld uud die Lust ; einzelne Billets wurden nach dem Tessiti ausgegeben, und ein Komiteemitglied löste 85 Billets für Lugano. Mit dem Abendzug reisten 85 Mann ab ; etwa 300 Italiener waren auf dem Bahnhof anwesend. Nachdem die Leute eingestiegen, wurden Ihnen die Waffen -- 9 Stück Revolver mit zudienender Munition -- abgenommen.

Die Polizeidirektion Zürich berichtete : ,,Die Bewegung ist seit dem 12. dies rückläufig geworden, indem nach eingelangten Polizeirapporten die Führer und Agitatoren der Italiener, welche seiner Zeit die Leute zur Reise nach Italien ermunterten und wohl auch materiell unterstützten, gleich nachher den begangenen Irrtum einsahen und sich jetzt ernstlich bemühen, die Abgereisten zurückzurufen. Das Komitee, das sich in Permanenz erklärte, hat sich noch nicht aufgelöst und beschäftigt sich damit, die nötigen Geldmittel zu beschaffen, um die Rückreise der Abgereisten zu ermöglichen und so sich selbst von Vorwürfen der Abgereisten, die in Notlage gekommen sind, zu schützen.

,,Seit dem 12. sind allerdings mit den verschiedensten Zügen des Tages noch Italienergruppen von 3--5 Mann von Zürich nach Italien verreist. Allein dieser Umstand kann als kein anormaler bezeichnet werden wenn man bedenkt, daß in Zürich und Umgebung eine sehr große Anzahl Italiener wohnhaft sind und viele

769 ·durch die vorhergegangene Abreise anderer beim Bauhandwerk Bethätigter der Arbeit verlustig gehen mußten. Auch wird es Leute geben, welche jetzt nach Italien reisen, welche nicht revolutionär gesinnt sind, sondern die Abreise bewerkstelligen, weil ihnen das Wohl und Wehe ihrer Angehörigen in Italien auch sonst noch am Herzea liegt und sie auch andere Interessen zu wahren haben. Es können daher denjenigen Italienern, welche nach dem 12. von Zürich abgereist sind, nicht durchwegs revolutionäre Motive unterschoben werden, und eigentliche bewaffnete Banden sind während der ganzen Italienerbewegung von Zürich n i e abgereist.

,,Die öffentliche Ruhe und Ordnung war nie gestört.1'Auf eine Anfrage telegraphierte das Polizeikommando Zürich am 16. Mai: Seit 13. Mai hat es nichts Neues gegeben. Die Bewegung ·dürfte mit jenem Tage als erloschen zu betrachten sein.

In Basel blieb es immer ganz ruhig. Der Regierungsrat berichtete sub 18. Mai an den Bundesrat: Das Polizeidepartement hat diese Verhältnisse (Bewegung der dort sich aufhaltenden Italiener) mit Aufmerksamkeit Überwacht und kann konstatieren, daß weder Zusammenrottungen noch sonstige feindselige Kundgebungen stattgefunden-haben, durch welche unsere internationalen Beziehungen hätten gefährdet werden können. Einzig am letzten Samstag (14. d. Mts.) wurde unter der Hand an hiesige Italiener eine gedruckte Einladung zu einer folgenden Tags stattfindenden Versammlung verteilt, worin einige beleidigende Ausdrücke gegen die italienische Regierung und den König enthalten waren. Das Polizeidepartement hat sofort veranlaßt, daß das Cirkular unterdrückt und durch ein anderes ersetzt wurde, in welchem die beleidigenden Ausdrücke fehlten. Auch hat das Polizeidepartement die Leiter der Versammlung aufgefordert, dafür zu sorgen, daß während derselben keinerlei feindselige 'Kundgebungen stattfinden.

Die polizeilich überwachte Zusammenkunft ist auch in der That ruhig, und ohne daß ein Einschreiten nötig geworden wäre, verlauten.

Wie aus der obigen Darstellung zu entnehmen ist, hat der Bundesrat von Anfang an der Angelegenheit alle Aufmerksamkeit geschenkt.

Bereits am 11. Mai hatte der Bundesrat von den eingelangten Mitteilungen über die Kundgebungen und den Versuch italienischer Arbeiter, von Lausanne über den Simplon nach Italien zu ver-

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reisen, um sich der revolutionären Bewegung anzuschließen, Kenntnis genommen, und es wurde beschlossen, daß das politische Departement, sowie das Justiz- und Polizeidepartement diesfalls die nötigen Anordnungen treffen sollen; Herr Bundesrat Brenner, der sich zu jener Zeit wegen einer Kommissionssitzung nach Lugano zu begeben hatte, übernahm die Aufgabe, sich mit Bezug auf die von der Regierung des Kantons Tessin zu treffenden Maßregeln zu verständigen und ihr insbesondere zu empfehlen, dem Bundesrat von allen wichtigen Vorfallen, sowie von ihren Anordnungen telegraphisch Kenntnis zu geben.

In der Sitzung vom 13. Mai hat der ßundesrat sowohl von den vom politischen und vom Justiz- und Polizeidepartement getroffenen Maßregeln als von einem Entwurf eines Kreisschreibens Kenntnis genommen, worin folgende Gesichtspunkte aufgestellt wurden, welche den Kantonsregierungen bei der Handhabung der Polizei und Aufreehterhaltung der Ordnung als Richtschnur dienen sollen : 1. Es ist unzulässig, daß bewaffnete Banden von Schweizergebiet aus in das Königreich Italien eindringen. "Wenn in der Nähe der Grenze sich Ansammlungen bewaffneter Italiener bilden, so sind dieselben zu entwaffnen und aufzulösen.

2. Unbewaffnete sollen nur in kleineren Abteilungen gleichzeitig über die Grenze gelassen werden. In den Eisenbahnzügen dürfen bis zu 300 Mann gleichzeitig die Grenze überschreiten.

3. Sollten sich in den Grenzkantonen größere Anhäufungen von Italienern bilden, so ist dafür zu sorgen, daß dieselben sich auflösen, indem die einzelnen Gruppen entweder nach der Heimal oder nach dem Orte ihres letzten Aufenthaltes weiterspediert werden.

4. Sollten Personen, welche aus Italien nach der Schweiz geflüchtet sind, sich an der gegen Italien gerichteten Bewegung beteiligen, so ist hiervon dem Bundesrat telegraphisch Mitteilung zu machen, unter Angabe des Namens und des Aufenthaltsortes der Betreffenden. Der Bundesrat wird gegen solche Personen die weitern Verfügungen treffen.

5. Die Kantone werden die zur Aufrechthaltung von Ruhe und Ordnung erforderlichen Maßnahmen von sich aus treffen und für Handhabung der Polizei auf ihrem Gebiete Sorge tragen. Sie werden den Bundesrat von den getroffenen Maßnahmen und allen wichtigen Vorkommnissen telegraphisch benachrichtigen.

Da nach den eingegangenen Mitteilungen anzunehmen war, daß die ganze Bewegung unter den italienischen Arbeitern in der

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Schweiz ans Ende gelangt sei, wurde beschlossen, auf die Vorlage zur Zeit, nicht einzutreten.

Von Anfang an war klar, daß der Bundesrat nicht dulden könne, daß bewaffnete Banden sich bilden, die versuchen, von unserem Gebiet aus in Italien einzufallen, ebensowenig, daß größere Abteilungen -- wenn auch unbewaffnet -- die Grenze überschreiten, in der Absicht, an den im Nachbarstaat ausgebrochenen Unruhen sich zu beteiligen. Abgesehen von der Rücksicht auf die freundschaftlichen Beziehungen mit Italien, war dies ein Gebot völkerrechtlicher Pflicht. Der Bundesrat hat auch in dieser Beziehung sofort die erforderlichen Anordnungen getroffen.

Eine andere Frage aber war die, ob man gegen die Bewegung überhaupt einschreiten, die Versammlungen und Umzüge verbieten, die Abreise der italienischen Arbeiter verhindern sollte etc. Abgesehen davon, daß ein Recht, Leute, die in ihre Heimat reisen wollen, an der Heimreise zu verhindern, überhaupt nicht besteht, auch eine nicht unerhebliche Anzahl Italiener behufs Erfüllung der Militärpflicht einberufen war, wäre bei der starken Aufregung, die unter großen Massen der Italiener herrschte, eine sofortige Unterdrückung der Bewegung und die wirksame Ausführung einer bezüglichen Maßregel zweifelsohne nur mit Aufgebot von Truppen, mit Anwendung von militärischer Gewalt, möglich gewesen. Nun lauteten aber die Berichte, die aus den Kantonen eingingen, übereinstimmend, daß die öffentliche Ruhe und Ordnung nirgends gestört und auch nicht bedroht sei ; im Gegenteil wurde hervorgehoben, daß die Versammlungen und Umzüge der Italiener einen ruhigen Verlauf genommen. Es bestand also vom Gesichtspunkte der Aufrechthaltung der innervi Ruhe und Ordnung keine Veranlassung, einzuschreiten, und man konnte die Anordnung allfällig notwendiger Verfügungen -- vorläufig wenigstens -- den kantonalen Behörden überlassen.

Auch vom völkerrechtlichen Standpunkt aus bestand kein Grund, ein Mehreres zu thun ; wir konnten einen solchen nicht erblicken in dem Umstand, daß die Italiener sich in leidenschaftlichen Ausbrüchen über die Zustände ihrer Heimat und ihrer heimatlichen Regierung ergingen. Wir sind bei uns an eine durchaus freie Bewegung gewöhnt; die Kritik, die über die Zustände des eigenen Landes und dessen Behörden geübt wird, ist bekanntlich auch nicht immer eine sachliche und leidenschaftslose.

Und wenn die Italiener von ihren revolutionären Ideen keinen Hehl machten und offen aussprachen, daß sie nach Hause ziehen

772 wollen, um ihren Brüdern zu helfen, und sich anschickten, es zu thun, so lag darin, namentlich solange die Sache im Innern unseres Landes sich abspielte, für den Nachbarstaat keine Gefahr. Zwischen der Absicht und der Verwirklichung derselben war noch ein weiter Weg.

Es trat auch die Erwägung hinzu, daß die Bewegung voraussichtlich von kurzer Dauer sein werde ; wir nahmen an, daß die Leute bei einiger Überlegung sich überzeugen werden, daß ihr Unternehmen ein sinn- und aussichtsloses sei. Und in der That haben einzelne Führer dieses eingesehen und ihre Genossen ermahnt, von dem Vorhaben abzustehen und zur Arbeit zurückzukehren ; teilweise mit Erfolg ; die Bewegung kam zum Stillstand, der erwartete große Zuzug von Zürich, Basel und ändern Orten blieb aus.

Der ßundesrat war daher der Ansicht, vorläufig eine zuwartende Stellung einzunehmen, nach Umständen zu handeln und nicht ohne Not Truppen aufzubieten, um nicht der Angelegenheit eine größere Bedeutung beizulegen, als sie in Wirklichkeit besaß.

Es beschränkte sich auch die Sache auf den Zug von cirka 200 ins Wallis nach dem Simplon und die Reise von cirka 500 bis 600 nach dem Tessin. Die Abteilung, die sich auf dem Simplonhospiz festsetzte, wurde aufgelöst, und von den nach dem Tessin Ziehenden kehrten ein Teil zurück, andere konnten die Grenze passieren, ohne daß ein Zwischenfall eingetreten wäre, und eine letzte Abteilung wurde zwangsweise abgeschoben und den italienischen Behörden übergeben.

Diese letztere Maßregel wurde von verschiedenen Seiten angefochten, und es wurde behauptet, daß man mit den Traditionen des Landes gebrochen, die Grundsätze des Asylrechtes verletzt und politisch Verfolgte dem Ausland ausgeliefert habe.

Diese Vorwürfe sind unbegründet. Von Verweigerung des Asyls oder Verletzung der Grundsätze desselben kann schon deshalb nicht die Rede sein, weil die betreffenden Personen nicht solche waren, die sich einer Verfolgung wegen politischen Vergehen entziehen wollten und deshalb in unserem Lande eine Zuflucht suchten. Es waren keine politischen Flüchtlinge, sondern Leute, die bereits bei uns wohnten und ausdrücklich erklärten, nicht bei uns bleiben, sondern in die Heimat gehen zu wollen.

Von einer Auslieferung kann ebensowenig gesprochen werden.

Die Leute waren nicht verfolgt wegen irgend eines Vergehens, das sie im Ausland begangen ; eine Auslieferung wurde von niemandem verlangt, und eine Auslieferung auch nicht gewährt.

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Die Personen, die man den italienischen Behörden übergab, waren subsistenzlose, und als solche wurden sie übergeben; sie haben durch ihr Verhalten die Art und Weise des Abschubes selbst verschuldet.

Jeder Staat hat das Recht -- und dieses Recht ist im schweizerisch-italienischen Niederlassungsvertrag ausdrücklich vorgesehen-- subsistenzlose Fremde in die Heimat abzuschieben, und man wird von diesem Recht umso eher Gebrauch machen, wenn die betreffenden Personen dem Staate nicht nur zur Last fallen, sondern durch ihr Benehmen jede Rücksichtnahme ausschließen.

Die Abschiebung hatte zum Zweck, die Italiener, die vollständig ohne Mittel waren, dem Heimatstaate zuzuführen, der die Pflicht hat, für seine eigenen Angehörigen zu sorgen.

Unter den obwaltenden Umständen entsprach das gewählte Vorgehen den Interessen des Landes ; man konnte den tessinischen Behörden nicht zumuten, diese im gegebenen Zeitpunkt gefährlichen Elemente .in ihrem Gebiete länger zu dulden, zu unterhalten und militärisch bewachen zu lassen. Ebensowenig war es angezeigt, diese subsistenzlosen Leute, die sich gegenüber den Anordnungen der Behörden bereits wiederholt renitent bewiesen hatten, wider ihren Willen ins Innere des Landes zurückzubefördern, um sie dort zu unterhalten und zu überwachen.

Subsistenzlose Fremde, die keine Arbeit bei uns suchen wollen, die ihren Aufenthalt im Lande nur dazu benutzen, uns Ungelegenheiten zu schaffen, die Ruhe und Ordnung stören, den Verfügungen der Landesbehörde sich widersetzen, verdienen eine besondere Rücksicht nicht.

Die zwangsweise Abschiebung war eine durch die Verhältnisse gebotene, durchaus zulässige und wirksame Maßregel.

Die Durchführung derselben ist in einer von den erteilten Instruktionen allerdings teilweise abweichenden Weise vollzogen ·worden. Insbesondere erfolgte die Abschiebung nicht in kleineren Gruppen an verschiedenen Orten der Grenze, wodurch der wirkliche Charakter der Transporte besser gewahrt geblieben wäre.

Allein die Umstände erforderten ein rasches, energisches Handeln seitens der ausführenden Organe, und es ist daher begreiflich, daß die Auflösung der kompakten Masse in einzelne Kolonnen unterlassen wurde, um die Durchführung der Aufgabe nicht schwieriger und zeitraubender zu gestalten.

Mit dem 15. Mai hatten nach den übereinstimmenden Berichten aus den Kantonen die Italienerbewegungen ihr Ende er-

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reicht; am 16. Mai telegraphierte der Staatsratspräsident des Kantons Tessin an den Bundesrat: ,,tutto essendo rientrato nello stato normale, licenziarne truppa per mezzodì". *) Während dieser Ereignisse haben unsere Beziehungen mit der italienischen Regierung stetsfort ihren freundschaftlichen Charakter beibehalten.

Auf die verschiedenen an uns gerichteten mündlichen Anfragen um Auskunft haben wir immer antworten können, daß wir die nötigen Maßnahmen getroffen haben, damit an der italienischen Grenze nichts Inkorrektes vorgehe, wodurch das gute Verhältnis zwischen beiden Staaten gestört werden könnte.

Es war uns auch bekannt, daß die italienische Regierung ihrerseits längs der ganzen Grenze militärische Vorkehren getroffen hatte, um jeder Bande, die mit Gewalt in Italien einzudringen versuchen würde, entgegenzutreten.

Genehmigen Sie, Tit., die Versicherung unserer vollkommenen Hochachtung.

B e r n , den 13. Juni 1898.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident:

Euffy.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Ringier.

*) Nachdem sich alles wieder im Ruhezustand befindet, entlassen wir die Truppen um Mittag.

-··sso-f-r-

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung, betreffend die Bewegung der Italiener in der Schweiz anläßlich der Unruhen in Mailand. (Vom 13. Juni 1898.)

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Bundesblatt

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Jahr

1898

Année Anno Band

3

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26

Cahier Numero Geschäftsnummer

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Numéro d'affaire Numero dell'oggetto Datum

15.06.1898

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752-774

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10 018 372

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