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Bundesratsbeschluss über

die Verwendung von Kindern in den tessinischen Seidenspinnereien.

(Vom 11. Juni 1898.)

Der schweizerische B u n d e s r a t hat

über die Eingaben des Staatsrates des Kantons Tessin vom 11. und 31. Mai 1898, betreffend die Verwendung von Kindern unter 14 Jahren in den Coconsspinnereien, auf den Bericht des Industriedepartements, folgenden Beschluß gefaßt: A.

In thatsächlicher Beziehung wird festgestellt: Mit Schreiben vom 11. Mai 1898 ersuchte der Staatsrat des Kantons Tessin den Bundesrat um Prüfung der Frage, ob nicht die Verwendung von Mädchen von 12--14 Jahren den tessinischen Coconsspinnereien fernerhin gestattet werden könnte, wenn in Bezug auf Hygieine und Schulbesuch gewisse Bedingungen aufgestellt würden. Das Schreiben wurde begleitet 1. von einer Eingabe der Camera di commercio von Lugano, vom 17. Dezember 1897,

851 2. von einer Eingabe der Municipalità von Lugano, vom 29. Dezember 1897, 3. von einer Eingabe der Municipalità von Stabio und Mendrisio, vom 7./9. April 1898, 4. von einem Zeugnis der Municipalità von Lugano, vom 16. April 1898, 5. von einer Erklärung der Municipalità von Ligornetto, vom 17. April 1898, 6. von einer gedruckten, mit zahlreichen Unterschriften versehenen Petition der ,,operai ed operaie degli stabilimenti serici ticinesi1'", vom April 1898, 7. von einer mit 365 Unterschriften versehenen Petition von Arbeitern und Arbeiterinnen des stabilimento serico von Lugano, vom April 1898, 8. von einer mit 303 Unterschriften versehenen Petition von Arbeitern und Arbeiterinnen des stabilimento serico von Mendrisio, vom April 1898, 9. von einer mit 151 Unterschriften versehenen Petition von Arbeitern und Arbeiterinnen des stabilimento serico von Melano, vom April 1898, 10. von einer mit 176 Unterschriften versehenen Petition von Arbeitern und Arbeiterinnen des stabilimento serico von Segoma (Capolago), vom April 1898.

Die Tendenz sämtlicher Schriftstücke ging dahin, es möchte die Aufhebung der in den Jahren 1880 und 1881 provisorisch erteilten 4 Bewilligungen zur Verwendung von Kindern zwischen 12 und 14 Jahren (siehe Bundesratsbeschluß vom 19. November 1897, Bundesbl. IV, 1006 ; Bundesratsbeschluß" vom 6. Januar 1898, Bundesbl. II, 152) rückgängig gemacht werden.

Am 29. Mai 1898 telegraphierte der tessinische Regierungspräsident dem Bundesrat : ,,Gestern Seidenspinnerei Bodmer in Melano geschlossen und sämtliche Arbeiterinnen entlassen."

Mit Schreiben vom 31. Mai 1898 endlich benachrichtigte der Staatsrat den Bundesrat, daß der tessinische Große Rat in seiner Sitzung vom 25. Mai den Staatsrat in besonderer Resolution eingeladen habe, zu verlangen, daß die erwähnten Bewilligungen bis zum 1. Juni 1899 verlängert und in der Zwischenzeit eine Enquête über die thatsächlichen Verhältnisse und die Kinderarbeit in den tessinischen Seidenspinnereien vorgenommen werde.

Der Vollständigkeit wegen ist noch Folgendes zu erwähnen:

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1. Die tessinische direzione d'igiene reichte mit Schreiben vorn 1. April 1898 dem schweizerischen Industriedepartement eine Petition von 49 Arbeitern und Arbeiterinnen der Filanda BodmerMuralt in Melano, vom 2. Februar 1898, von der Municipalità.

Melano mit Schreiben vom 7. Februar unterstützt, ein; das in der Petition enthaltene Begehren um Beibehaltung der mehrerwähnten Bewilligungen wurde vom Industriedepartement am 6. April unter Hinweis auf den ßundesratsbeschluß vom 6. Januar 1898 abgewiesen.

2. Der tessinische Staatsrat übermittelt dem Bundesrat einen Beschluß vom 12. April 1898, dahingehend, die direzione d'igiene sei eingeladen, eine Konferenz des Fabrikinspektors, eines Abgeordneten des Bundesrates und der Vertreter der Seidenspinnereien zu veranstalten, um die Situation ernstlich zu prüfen und einen mit den industriellen Interessen des Kantons vereinbarenden Ausweg zu Suchen.

3. Mit Schreiben vom 3. Juni 1898 verwendet sich die Firma Bodmer-Muralt in Zürich (Filanda Melano) beim Industriedepartement für Belassung der besprochenen Kinderarbeit.

B.

Es fällt in Betracht: In ihrem gemeinschaftlichen Bericht vom 1. Juni 1898 äußern sich die eidgenössischen Fabrikinspektoren über die Angelegenheit in folgender Weise : ,,Sie beauftragen uns mit der Begutachtung des Gesuches, welches die Regierung des Kantons Tessin zu Gunsten einiger Seidenindustrieller einreichte und das auf Gestattung der Verwendung von Kindern von 12--14 Jahren in den Coconsspinnereien des Tessin abzielt.

,,Ehe wir auf die Frage selbst eintreten, schicken wir einige statistische Notizen voraus.

,,In den vorerwähnten Geschäften arbeiteten am 5. Juni 1895, also mitten in der Saison, 1052 Personen, wovon 384 unter 18 und nur 75 unter 14 Jahren (Lugano 60, Melano 9, Riva San Vitale 6, Mendrisio 0), all dies nach den amtlich gemachten Angaben der betreffenden Firmen, deren Richtigkeit wir bei diesen Erörterungen nicht anzweifeln dürfen. Unter den weniger als 14 Jahre alten befanden sich 68 Italienerinnen und s i e b e n Tessine-

853 rinnen. Heute beträgt die Zahl der Arbeiter nach den Erhebungen des Kreisinspektors cirka 1200, wovon 150 unter 14 Jahren. Von diesen 150 sind 65 Tessinerinnen und 85 italienische Staatsangehörige. Diese 75 respektive 150 Personen bilden den Gegenstand eines Gesuchs, welches das Fabrikgesetz und das Tessiner Schulgesetz gleich sehr durch seine Gewährung verletzen würde.

.,,Die Petenten stellen die Schließung ihrer Etablissemente in Aussicht, wenn nicht entsprochen werde. Schon 1878 wurde der sofortige Ruin der Tessiner Seidenindustrie prophezeit, wenn auch im Tessin am llstündigen Arbeitstag festgehalten werde. Warum nun diese Drohung, welche so sehr in Widerspruch steht mit dem, was uns von gleicher Seite früher gesagt wurde? In Mendrisio sagte man dem jetzigen Kreisinspektor schon bei seinem ersten Besuch, daß man der Verwendung zu junger Kinder entsagt habe.

Bei unserm gemeinsamen Besuch im April 1894 fanden wir unter 156 Arbeitern keine unter 14 Jahren, weder im Geschäft, noch auf den Listen ; in Riva San Vitale nur 4 unter 150--200 Arbeitern, und der Direktor erklärte ausdrücklich, es sei kein Vorteil, solche unter 14 Jahren zu haben. Nur bei Lucchini in Lugano trafen wir zahlreiche Kinder unter 14 Jahren und zwar sowohl in der Coeonsspinnerei, als a u c h in der S e i d e nw i n d e r e i. Wir verwunderten uns über das erstere nicht, denn dort wurde noch die alte Methode geübt, daß Kinder von Hand mit der Bürste die Cocons schlagen, eine Methode, die doppelt so viel Kinder erforderlich macht ; dagegen waren wir überrascht, in einer Seidenwinderei, wie sie bei uns so häufig vorkommen, die der Coconspinnerei erteilte Bewilligung auch benutzt zu sehen.

,,Sind nun die Kinder bei der Coeonsspinnerei absolut notwendig und durch keine Erwachsenen zu ersetzen? Niemand vermag dies im Ernst zu glauben, der die ganze Manipulation beobachtet. Wohl wird eine zarte gelenkige Hand von Nutzen sein, aber auch Erwachsene vermögen das Gleiche zu leisten. Das Heraussuchen von verunreinigenden Fasern aus der gekämmclten Seide, das in der deutschen Schweiz den Gegenstand der Hausarbeit alter oder schwächlicher Leute bildet, stellt ungefähr die gleichen Anforderungen an die Hand. Und sollten denn wirklich gar keine Tessinerkinder zu bekommen sein? Was treiben denn diese vom 14.--16. Jahr? Wir denken, sie
finden andere, lukrativere Arbeit, würden sich aber wohl auch zu dieser Beschäftigung entschließen können, wenn die Löhne lockender wären. Dann wäre auch Aussicht vorhanden, daß die Arbeiterinnen länger blieben.

Denn was gewöhnlich erzählt wird, daß die Mädchen mit 16 oder

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17 Jahren heiraten und dann die Fabrik für immer verlassen, hält vor einer zahlenmäßigen Prüfung nicht Stand. Während in der Schweiz cirka 7 % aller Neuvermählten 16--19 Jahre alt sind, machen sie im Tessin allerdings 13 % aus, aber also doch die verschwindende Minderheit. Wir hegen deshalb die Überzeugung, daß allerdings den Seidenindustriellen die Konkurrenz, mit Italien durch die Beschränkung der billigen Kinderarbeit schwer gemacht würde, gerade wie der Mangel jeder Beschränkung der Arbeitszeit in Italien unsern Spinnern und Webern die Mitbewerbung schwer macht. Es ist diesen aber noch nicht eingefallen, deswegen auf Aufhebung des Maximalarbeitstages zu dringen.

,,Die Herren Seidenindustriellen heben nun allei'dings hervor, wie ihre Arbeit eine gesunde, und die Entwicklung der ennetbirgischen Jugend eine viel früher vollendete sei. Wir berufen uns in Bezug auf den letzteren Punkt auf das mit Zahlen Belegte, was wir Ihnen im April 1894 mitteilten. Wir wiederholen, daß viele der Kinder in den Filanden ebenso übel aussehen, wie unsere Baurnwollspinnerkinder. Die feuchtwarme Luft der Filanden wirkt wenigstens erschlaffend und ist der Kräftigung nicht gerade förderlich.

Übrigens ist -auch das Fabrikgesetz nicht nur gesundheitlicher, sondern auch intellektueller und moralischer Nachteile wegen in Bezug auf Kinderschutz strenge ausgefallen. Diese Nachteile bestehen aber im Tessin wie in der ganzen übrigen Welt.

,,Wir möchten aber auch das Schulgesetz erwähnen, das im Tessin zum Schulbesuch bis zu erfülltem 14. Jahr verpflichtet.

Dispensation ist allerdings zulässig, entweder, wenn der Nachweis absoluter Notwendigkeit geleistet ist, daß die Kinder den Eltern helfen, oder derjenige über eine schon vorher empfangene, genügende Schulbildung. Wir denken, diese Nachweise seien weder bisher geleistet worden, noch würden sie künftig erbracht werden.

Es liegt also auch hier ein schwerwiegender Grund gegen die Gewährung des Gesuches vor.

,,Wenn wir aber nach unsern bisherigen Ausführungen die für das Gesuch vorgebrachten Gründe hinfällig erachten, halten wir dafür die Gegengründe für um so triftiger. Wie sollte es noch gelingen, unser Fabrikgesetz zu handhaben, wenn auf solche Gründe der bloßen ökonomischen Convenienz hin Ausnahmen in den wichtigsten Punkten gestattet werden ! Mit welchem Gewissen könnte
in Zukunft die Schweiz vor die ändern industriellen Staaten mit Vorschlägen der internationalen Regelung der Fabrikgesetzgebung hintreten, wenn sie selbst im Kinderschutz im Rückschritt begriffen

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wäre! Und zu weichern Zweck würde diese Nachsicht geübt?

Zur Erhaltung einer Industrie, in welcher sich nach der Aussage kompetenter Personen die Arbeiter mit Löhnen von 30--120 Cts.

per Tag begnügen müssen !

,,Wir schließen mit dem Wunsch, es möge das Gesuch der Regierung von Tessin und der von ihr vertretenen Potenten abschlägig beschieden werden, und wir glauben, nach Allem, was wir vernommen, uns damit in Übereinstimmung mit der großen Mehrzahl der tessinischen Bevölkerung und noch mehr des ganzen übrigen Schweizervolkes zu befinden."· Weitere Enqueten erscheinen nach den wiederholten eingehenden Untersuchungen der eidgenössischen Fabrikinspektoren als überflüssig.

Art. 16, Absatz l, des Bundesgesetzes betreffend die Arbeit in den Fabriken, vom 23. März 1877, bestimmt: ,,Kinder, welche das vierzehnte Altersjahr noch nicht zurückgelegt haben, dürfen nicht zur Arbeit in Fabriken verwendet werden/1 Es liegt in der Natur der Sache, daß die Vollziehung dieses Gesetzes in der Anfangsperiode ungewöhnlichen Schwierigkeiten begegnete. Auf diesen Umstand sind die provisorischen Bewilligungen zurückzuführen, welche das damalige Handels- und Landwirtschaftsdepartement am 15. Dezember 1880 und 19. Mai 1881 vier tessinischen Coconsspinnereien erteilte, wonach sie Kinder mit zurückgelegtem 12. Altersjahre beschäftigen durften. Es war aber Pflicht der Bundesbehörde, dem Gesetze nach Verfluß einer gewissen Entwicklungszeit in a l l e n Beziehungen strenge Nachachtung zu verschaffen ; sie hat denn auch dieses Ziel unablässig verfolgt, und war, was speciell die Arbeit von Kindern unter 14 ' Jahren in den vier tessinischen Geschäften betrifft, seit dem Frühjahr 1894 fortwährend bemüht, deren Beseitigung herbeizuführen.

Dies geschah endlich durch bindende Beschlüsse des Staatsrates vom 4. September 1897 und des Bundesrates vom 19. November 1897 und vom 6. Januar 1898.

Eine letzte Frist wurde in letzterm bis Ende Mai 1898 gewährt. Damit ist die Bundesbehörde bis an die äußerste Grenze des Entgegenkommens gegangen ; eine fernere Konzession muß im Hinblick auf den erwähnten Art. 16 des Fabrikgesetzes und auf die gegenüber allen übrigen industriellen Anstalten befolgte Praxis als schlechterdings unzulässig bezeichnet werden.

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Demnach wird beschlossen: Die in dem Schreiben des tessinischen Staatsrates vom 11.

und 31. Mai 1898 enthaltenen Begehren, sowie die dasselbe begleitenden Petitionen werden abgewiesen.

B e r n , den. 11. Juni 1898.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates ; Der Bundespräsident: Ruffy.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Eingier.

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Bundesratsbeschluss über die Verwendung von Kindern in den tessinischen Seidenspinnereien. (Vom 11. Juni 1898.)

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22.06.1898

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