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Bundesratsbeschluss über

den Rekurs der Gotthardbahngesellschaft betreffend Tragung der Untersuchungskosten bei Haftpflichtfällen (Vom 6. Januar 1898.)

Der schweizerische Bundesrat

hat über den Rekurs der G o t t h a r d b a h n g e s e l l s c h a f t betreffend Tragung der Untersuchungskosten bei Haftpflichtfällen, auf den Bericht des Justiz- und Polizeidepartements, folgenden Beschluß gefaßt:

A.

In thatsächlicher Beziehung wird festgestellt:

I.

Den 26. Juni und 10. Juli 1897 beschloß der Regierungsrat des Kantons Uri, der Gotthardbahngesellschaft die infolge einer Reihe von Eisenbahnunfällen verursachten verhöramtlichen Untersuchungskosten aufzuerlegen. Die Gotthardbahngesellschaft weigerte sich, die durch die Unfälle der Bremser Wipfli und Imhof und der Alice Gramer entstandenen Kosten im Gesamtbetrage von Fr. 56. 45 zu bezahlen, da die beiden Bremser den Unfall nicht auf urnerischem, sondern auf schwyzerischem Gebiete erlitten hatten und der Unfall der Alice Cramer ein selbstverschuldeter war.

42 II.

Den 18./19. August 1897 teilte die Regierung des Kantons Uri der Gotthardbahngesellschaft mit, daß sie an ihrer Forderung von Fr. 56. 45 festhalte; die Bahngesellschaft habe selbst die Behörden vom Unfall Wipfli und Imhof, die Urner sind und im Kanton Uri wohnen, in Kenntnis gesetzt, was einer Aufforderung zur Einleitung der verhöramtlichen Untersuchung gleichkomme ; ferner habe sie durch Auskunftgabe am Fortgange der Untersuchung mitgewirkt.

Trotz des Selbstverschuldet der Alice Cramer habe die Bahngesellschaft die Untersuchungskosten zu tragen, da die Haftpflicht nicht von vornherein klar war, sondern erst durch die Untersuchung ermittelt werden konnte.

III.

Gegen diesen Entscheid hat die Gotthardbahngesellschaft (vertreten durch Dr. Franz Bucher in Luzern) mit Eingabe vom 18. Oktober an den Bundesrat rekurriert, gestützt auf Art. 189, Absatz 2, des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege vom 22. März 1893.

Die Beschwerdeführerin bestreitet nur die grundsätzliche Berechtigung des Kantons Uri, von der Bahn Vergütung der Kosten zu verlangen, die aus der Untersuchung von Unfällen und Betriebsgeiuhrdungen entstehen.

Zur Anzeige der Unfälle ist die Bahngesellschaft gesetzlich verpflichtet, gerade wie sie im Laufe der Untersuchung Auskunft erteilen muß, damit die Untersuchung richtige Resultate erzielt.

Ebenso sind die kantonalen Behörden zur Vornahme der Untersuchung im öffentlichen Interesse gesetzlich verpflichtet ; die Untersuchung erfolgt also nicht auf Grund freier Initiative der Bahn ; demnach können ihr auch nicht von einer Kantonsbehörde die Untersuehungskosten auferlegt werden. ,,Vollständig absurd" ist es aber, die Untersuchungskosten auch dann von der Bahn zu erheben, wenn der Verunglückte den Unfall selbst verschuldet hat.

IV.

In ihrer Vernehmlassung vom 29. November 1897 erklärt die Regierung des Kantons Uri den Rekurs vorerst als verspätet, da nicht das Datum der letzten Verfügung der Urner Regierung vom 18./l 9. August, sondern das Datum der früheren Beschlüsse vom 26. Juni und 10. Juli 1897 maßgebend sein könne; den 18./19.

August seien diese früheren Beschlüsse nur bestätigt worden.

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Wenn auch die Gotthardbahngesellsehaft gesetzlich zur Anzeige der Unfälle verpflichtet war, so hat sie nichtsdestoweniger die Veranlassung zu diesen Untersuchungen gegeben.

Der Beschwerde ist aber nicht zu entnehmen, welches Bundesgesetz die Urner Behörden unrichtig ausgelegt haben sollen.

Übrigens hat der Bundesrat bereits den 30. Oktober 1889 der Regierung des Kantons Uri mitgeteilt, dass die Tragung der Untersuchungskosten sich nach Maßgabe der kantonalen Gesetze richte ; demgemäß hat der Landrat des Kantons Uri am 20. November 1889 die kantonale Vollziehungsverordnung betreffend Haftpflicht dahin ergänzt, daß die verhöramtlichen Untersuchungskosten jeweilen von den Betriebsunternehmern zu tragen seien. Von dieser Bestimmung erhielt die Gotthardbahngesellschaft durch das eidg.

Post- und Eisenbahndepartement Kenntnis.

Für die Untersuchungskosten des Unfalles der Alice Cramer ist die Bahngesellschaft, als Veranlasserin, so lange haftbar, als nicht jemand anders zur Bezahlung dieser Kosten gerichtlich verurteilt ist.

B.

In rechtlicher Beziehung fällt in Betracht:

I.

Die den 18. Oktober abends zwischen 7 und 8 Uhr der eidgenössischen Post in Luzern übergebene Beschwerde ist in nützlicher Frist eingereicht worden, da die 60-tägige Rekursfrist vom 19.

August an zu rechnen ist und nicht, wie die Urner Regierung behauptet, von einem früheren Datum. Die regierungsrätlichen Erlasse vom 26. Juni und 10. Juli 1897 enthalten nämlich nur den Beschluss, die Untersuchungskosten der namhaft gemachten Haftpflichtfälle der Gotthardbahngesellschaft aufzuerlegen, und erst als die Bahngesellschaft den -24. Juli ihre Zahlungspflicht für die Fälle Wipfli, Imhof und Cramer bestritt, erfolgte den 18./19. August die mit rechtlicher Begründung versehene regierungsrätliche Entscheidung; gegen diese aber ist die Beschwerde der Bahngesellschaft gerichtet.

II.

Der Bundesrat ist kompetent, die vorliegende Beschwerde zu entscheiden ; denn nach Meinung der Beschwerdeführerin ist die Auferlegung der Kosten bei Unfallsuntersuchungen auf den Betriebsunternehmer durch die eidgenössische Haftpflichtgesetzgebung aus-

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geschlossen. Da diese Frage keine privatrechtliche ist, so ist sie gemäß Art. 189, Absatz 2, des Organisationsgesetzes vom Bundesrate zu entscheiden.

III.

Der Regierungsrat des Kantons Uri stützt seine Entscheidung vom 18./19. August 1897 auf die durch Beschluß des Landrates vom 20. November 1889 ergänzte kantonale Vollziehungsverordnung betreffend die Haftpflicht, vom 28. Februar 1880, welche die Kosten der durch die eidgenössische Haftpflichtgesetzgebung (vgl.

Fabrikgesetz 1877, Art. 4) angeordneten amtlichen Untersuchungen dem Betriebsunternehmer auferlegt. Der Bundesrat hat in einer Rekursentscheidung vom 9. September 1881 (vgl. den vom schweizerischen Handels- und Landwirtschaftsdepartement herausgegebenen Kommentar des Fabrikgesetzes, 1888, 8. 42) festgestellt, daß, da das Fabrikgesetz vom 23. März 1877 keine Bestimmungen darüber enthalte, wer die Kosten für die amtliche Untersuchung eines Unfalles zu tragen habe, die Regelung dieses Punktes der kantonalen Gesetzgebung überlassen sei und daß die Kantonsbehörde, indem sie die Untersuchungskosten dem Betriebsunternehmer auferlege, mit Bundesvorschriften nicht im Widerspruch trete. Diese Auffassung hat der Bundesrat in einem Schreiben vom 30. Oktober 1889 an die Regierung des Kantons Uri bestätigt, und es liegt kein Grund vor, heute diesen Standpunkt zu verlassen. Die am 20. November 1889 beschlossene Ergänzung der Urner Vollziehungsverordnung betreffend Haftpflicht ist daher von Bundes wegen nicht zu beanstanden.

Demnach wird er k annt: Der Rekurs wird als unbegründet abgewiesen.

B e r n , den 6. Januar

1898.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident: Ruffy.

Der L Vizekanzler : Schatzmann.

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