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Schweizerisches Bundesblatt.

50. Jahrgang. II.

Nr. 17.

13. April 1898.

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Druck und Expedition der Buchdruckerei Stämpfli & Oie. in Bern.

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Bericht des

Bundesrates an die Bundesversammlung, betreffend die nächste eidgenössische Volkszählung und ihre Anwendung auf die Nationalratswahlen. (Motionen Amsler und Hochstraßer-Fonjallaz.)

(Vom 6. April 1898.)

Tit.

Den 17. Dezember 1897 lag dem Nationalrate eine von den HH. Amsler und Genossen eingereichte Motion zur Behandlung vor, die den folgenden Wortlaut hatte.

,,Der Bundesrat wird eingeladen, eine Volkszählung so rechtzeitig durchzuführen, daß die Integralerneuerung des Nationalrates auf der neuen Grundlage erfolgen kann."

Diese Motion wurde begründet ,,unter Hinweis darauf, daß Art. 72 und 73 der Bundesverfassung fortwährend wirkende Postulate bilden, in dem Sinne, daß überall da, wo ein Landesteil eine Bevölkerungszunahme wahrscheinlich machen könne, welche ihm Anspruch auf vermehrte Vertretung sichere, jene Zunahme durch offizielle Zählung zu erwahren sei ; das Gesetz habe diesen verfassungsmäßigen Vorschriften nicht derogieren können. Wenn man aber soweit nicht gehen wolle, in der Unterlassung einer Zählung eine eigentliche Verletzung jener Vorschriften zu erblicken, so leuchte doch ein, daß die Anordnung einer solchen Zählung jedenfalls mit der Verfassung nicht im Widerspruch stehe, und unter dieser Voraussetzung Bundesblatt. 00. Jahrg. Bd. II.

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müssen Erwägungen der Zweckmäßigkeit und Billigkeit den Ausschlag geben. Nun beruhe die jetzige Vertretung des Kantons Zürich auf der Basis einer 1888 gezählten Wohnbevölkerung von 339,000 Seelen" (die richtige Zahl ist 337,183), ,,während an Hand der amtlichen kantonalen Statistik behauptet werden dürfe, daß diese Bevölkerung sich heute um mindestens 80,000 Seelen höher stelle. Es ergebe sich daraus, wie sehr verkürzt der Kanton Zürich und insbesondere der erste eidgenössische Wahlkreis dastünde, wenn die nächste für die Wahlen in den Nationalrat maßgebende Volkszählung erst 12 Jahre nach derjenigen von 1888 stattfinden würde, um die vorn Gesetze geforderte Periodicität der 10 Jahre wieder herzustellen. Das Begehren der zürcherischen Abgeordneten dürfe um so eher auf Zustimmmung rechnen, als ja auch die minimalsten politischen Rechtsansprüche der schweizerischen Bürger in den eidgenössischen Räten mit exemplarischer Gründlichkeit untersucht und behandelt zu werden pflegen, während es sich hier um eine Frage von großer politischer Tragweite handle. In aweiter Linie falle auch die Frage der ökonomischen Ansprüche in Betracht, welche der Kanton Zürich auf Grund seiner stark angewachsenen Wohnbevölkerung an den Ertrag des Alkoholmonopols zu erheben im Falle sei, und denen man kaum gerecht werden könne, bevor jenes Wachstum durch den Bund konstatiert sei.

Die Furcht vor ausländischen Elementen in den der Entwicklung fähigsten schweizerischen Landesteilen, zu denen vorab auch Zürich gehöre, dürfe vor der geforderten Maßnahme, welche der Gerechtigkeit und Billigkeit durchaus entspreche, in keiner Weise zurückschrecken. a (Protokoll des Nationalrates.)

Die Motion wurde vom Nationalrate in der folgenden abgeänderten Fassung als erheblich erklärt.

,, D e r B u n d e s r a t w i r d e i n g e l a d e n , auf die nächste Session der B u n d e s v e r s a m m l u n g B e r i c h t und Antrag zu e r s t a t t e n , ob n i c h t eine V o l k s z ä h l u n g so r e c h t z e i t i g d u r c h z u f ü h r e n sei, d a ß d i e I n t e g r a l e r n e u e r u n g d e s N a t i o n a l r a t e s v o n 1899 a u f deineu en G r u n d l a g e e r f o l g e n k ö n n e .a Erheblieh erklärt wurde vom Nationalrate dann auch eine während der obigen Verhandlungen von den HH. Hochstraßer, Fonjallaz und Genossen eingereichte Motion, die den folgenden Wortlaut hatte.

671 ,,Der Bundes rat wird eingeladen, die Frage zu p r ü f e n u n d d a r ü b e r B e r i c h t z u e r s t a t t e n , ob e s n i c h t a n g e z e i g t w ä r e , v o r D u r c h f ü h r u n g d e r Volksz ä h l u n g v o n 1898 d e n A r t . 7 2 d e r B u n d e s v e r fassung in dem Sinne zu revidieren, daß für die Wahlen in den Nationalrat ausschließlich die Bev ö l k e r u n g s c h w e i z e r i s c h e r Nationalität a l s Grundlage zu gelten hätte.a Diese zweite Motion wurde begründet ,,unter Hinweis darauf, wie die großen Städte und Städtekantone dadurch, daß die Ausländer, welche an und für sich weder die aktive noch die passive Wahlfähigkeit besitzen, doch bei Bemessung der nationalen Vertretung mitzählen, gegenüber den ändern, hauptsächlich den Landwirtschaft treibenden Kantonen in geradezu ungebührlicher Weise privilegiert erscheinen. Innerhalb der Grenzen der einzelnen Kantone, so vorab im Kanton Zürich, habe man in dieser Richtung mit Bezug auf die Vertretung in den kantonalen Behörden Abhülfe geschaffen. Was in den Kantonen, sollte aber auch im Bunde Rechtens sein."- (Prot. d. Nat. R.)

Wenn man den Wortlaut der zweiten Motion scharf ins Auge faßt, wird man vielleicht zu dem Schlüsse gelangen, daß diese Motion nur als eine eventuelle zu betrachten sei und eine sachliche Behandlung der von ihr angeregten Frage nur dann verlange, wenn infolge der ersten Motion die nächste eidgenössische Volkszählung in der That auf das Jahr 1898 angeordnet werde. Die zeitlichen Umstände, unter denen jene Motion erfolgte, dürften ebenfalls für eine solche Auslegung anzuführen sein. Aber die Verhandlungen im Nationalrate bieten daneben auch Anhaltspunkte, die daran zweifeln lassen, ob die Motion wirklich in diesem engen Sinne gemeint war und beschlossen wurde. Die Verhältnisse, die zu ihrer Begründung angeführt wurden, haben keine besondere oder engere Beziehung gerade zum Volkszählungsjahre 1898 ; sie könnten bei einer spätem Zählung mit der gleichen Berechtigung angeführt werden.

Indem wir schon aus diesem Grunde jener formalistisch beschränkenden Auslegung nicht beistimmen, halten wir ferner dafür, daß es sich geradezu empfehle, auch die zweite Motion heute schon, d. h. gleichzeitig mit der ersten Motion, mit der sie entstanden ist, einläßlich und abschließend zu behandeln. Praktisch genommen haben ja beide Anregungen den nämlichen Gegenstand im

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Auge, nämlich die kantons- und wahlkreisweise Zahl der Vertreter im Nationalrate. Die Bedeutung dieser Sache verbietet doch wohl, letztere stückweise zu behandeln, sie heute von einem Standpunkte aus zu betrachten und zu entscheiden, morgen von einem ändern Standpunkte aus. Die gleichzeitige Betrachtung unter verschiedener Beleuchtung bietet offenbar mehr Gewähr, zu einem die Ansprüche der einen und der ändern gleichmäßig berücksichtigenden und billig abwägenden Schlüsse zu gelangen.

Nach diesen Erwägungen kommen wir dazu, uns der durch die beiden Motionen erhaltenen Aufträge mittels dieser e i n e n Botschaft zu entledigen und Ihnen die gleichzeitige Behandlung der beiden angeregten Fragen zu empfehlen.

Wir beginnen unsere Auseinandersetzungen mit einem kurzen geschichtlichen Rückblicke darauf, wie die Verhältnisse entstanden sind, deren teilweise Neuordnung nun durch die beiden Motionen angestrebt wird.

Genau ein Jahrhundert erfüllt sich in diesen Tagen, seit in der Verfassung des schweizerischen Gesamtstaates zum erstenmal die Bevölkerungszahl als Maßstab der Vertretung in dem einen Rate der obersten Staatsbehörde aufgestellt wurde. Die den 12. April 1798 verkündigte helvetische Staatsverfassung schrieb nämlich vor, daß der ,,Große Rata der Republik aus acht Abgeordneten von jedem Kantone bestehe, fügte aber dieser Vorschrift sofort die folgende bei, ,,für die Folge soll das Gesetz die Anzahl bestimmen, welche jeder Kanton nach dem V e r h ä l t n i s s e s e i n e r Bevölkerung zu ernennen hat.1'- (In dem neben dem Großen Rate bestehenden Senate hatten alle Kantone die gleiche Anzahl von Vertretern.) Indem wir wohl unterlassen können, darzustellen, wie dieses Verhältnis in jeder einzelnen der einander so häufig ablösenden Verfassungen aus der helvetischen Zeit, oder in den Versuchen dazu, geregelt war, fuhren wir hier nur deren letzte an, nämlich die vom 2. Juli 1802. Sie war die erste Verfassung des schweizerischen Gesamtstaates, die einer Volksababstimmung unterbreitet wurde, und schrieb über das, was hier in Frage steht, das Folgende vor : ,,Die Tagsatzung besteht aus den Stellvertretern aller Kantone, die in dem Verhältnis von einem auf 25,000 Seelen gewählt werden. "· (In den -- durch die Tagsatzung gewählten -- Senat waren aus jedem Kantone wenigstens ein und höchstens drei Mitglieder zu ernennen, im ganzen 24 ; dazu kamen der Landammann und 2 Statthalter.)

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Der durch die .,Vermittlungsakteu vom 19. Februar 1803 an die Stelle des ,,einen unzerteilbaren Staates" eingeführte Bund der neunzehn Kantone kam wieder auf Eine Kammer zurück, und in der Tagsatzung hatte jeder Kanton die gleiche Zahl, nämlich Einen Vertreter, -- doch so, daß den Abgeordneten jener 6 Kantone, deren Bevölkerungszahl 100,000 überstieg (oder doch so angenommen wurde), je zwei Stimmen, den übrigen nur je eine zukam.

Bei der durch den Bundesvertrag vom 7. August 1815 vollzogenen noch entschiedenem Rückkehr zu den frühern Verhältnissen fiel auch die letzterwähnte Berücksichtigimg der Bevölkerungszahl dahin; in der Tagsatzung hatte jeder Kanton wieder nur e i n e Stimme. Auch die beiden Entwürfe einer Bundesurkunde aus den Jahren 1832 und 1833 schlugen hierin keine Änderung vor.

So blieb es der Bundesverfassung vom 12. September 1848 vorbehalten, den Gegensatz zwischen der geforderten Berücksichtigung der Bevölkerungszahl und der bisherigen gleichen Vertretung aller Kantone neuerdings durch die Einführung zweier Kammern auszugleichen. (Merkwürdigerweise findet sich in den betreffenden Verhandlungen der Tagsatzung und ihrer Kommission nicht die leiseste Erinnerung daran, daß dies in der Schweiz schon einmal dagewesen ; wird doch die vorgeschlagene Einrichtung ausdrücklich als ein in der Schweiz ,,gänzlich unbekanntes System" bezeichnet.) Die Bestimmungen der 48er Verfassung, die im besondern unsere heutigen Fragen betreffen, finden sich in deren Art. 61 (heutiger Art. 72), der so lautet: ,,Der Nationalrat wird^aus Abgeordneten ([es schweizerischen Volkes gebildet. Auf je 20,000 Seelen der Gesamtbevölkerung ·wird ein Mitglied gewählt. Eine Bruchzahl über 10,000 Seelen wird für 20,000 Seelen berechnet. Jeder Kanton und bei ge-' teilten Kantonen jeder der beiden Landesteile hat wenigstens ein Mitglied zu wählen. "· Dadurch, daß diese Bestimmungen ohne Widerspruch und in unverändertem Wortlaut sowohl in den Verfassungsentwurf von 1872, wie in unsere jetzige Verfassung vom 29. Mai 1874 aufgenommen wurden, wird nicht nur festgestellt, daß bis damals das Bedürfnis einer Änderung nirgends gefühlt wurde, sondern auch, daß die bis damals befolgte Auslegung und Anwendung dieser Bestimmungen allseitig als die richtigen anerkannt wurden, -- mit ändern Worten: der heutige Art. 72 ist im Jahre 1874 in dem Sinne in die Verfassung aufgenommen worden, in dem der

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gleichlautende Art. 61 der 48er Verfassung in der Zwischenzeit angewendet worden war.

Und diesen heutigen Verfassungsvorschriften und ihrer bisherigen Anwendung stellt sich nun die Motion Amsler als Antrag einer neuen Auslegung, die Motion Hochstraßer aber als Antrag zu einer grundsätzlichen Änderung entgegen.

Indem wir der Motion Amsler den Vortritt einräumen, untersuchen wir zuerst, in welcher Weise überhaupt den Forderungen der Motion auf dem Boden der heutigen Gesetzgebung nachgekommen werden könnte. Es wären hierfür zwei Schritte erforderlich, die beide eines eigenen Bundesgesetzes bedürfen. Erstens Vorrücken der sonst auf den Dezember 1900 fallenden nächsten Volkszählung in das laufende Jahr, und zweitens Zuteilung des aus den neuen Bevölkerungszahlen für die verschiedenen Kantone sich ergebenden Zuwachses von Nationalratsstellen an die einzelnen Wahlkreise.

Der Zeitpunkt der nächsten Volkszählung ist gegenwärtig durch das Bundesgesetz vom 3. Februar 1860 festgelegt, welches vorschreibt: ,,Art. 1. Es soll im laufenden Jahre und künftighin in zehnjährigen Perioden eine allgemeine schweizerische Volkszählung stattfinden. Art. 2. Dieselbe wird im Monat Dezember ausgeführt. Den nähern Zeitpunkt und die Dauer bestimmt der Bundesrat.a So fanden denn eidgenössische Volkszählungen im Dezember der Jahre 1860, 1870 und 1880 statt. Dagegen wurde dann allerdings die Zahlung^ welche für den Dezember 1890 bevorstand, aus Gründen, die hier gleichgültig sind, ,,ausnahmsweise" um zwei Jahre vorgerückt. Es geschah dies durch ein besonderes Bundesgesetz (29. April 1887), und keineswegs in dem Sinne, daß nun in Zukunft die zehnjährigen Perioden von der Zählung von 1888 aus zu rechnen seien, sondern nach der betreffenden bundesrätlichen Botschaft ausdrücklich in dem Sinne, ,,daß in die zehnjährigen Perioden eine solche von 8 und eine andere von 12 Jahren eingeschaltet wird". (Bundesbl. 1887, I, 776.) Die Verschiebung der gegenwärtig für den Dezember 1900 vorgeschriebenen Volkszählung auf das laufende Jahr wird also, gleichwie im Jahre 1887, wiederum nur durch ein Bundesgesetz^Xmit Referendumsvorbehalt) stattfinden können.

Wenn auch die Zeit für die nötigen Vorbereitungen als knapp bezeichnet werden muß, so halten wir immerhin für möglich, ein solches Gesetz noch im laufenden Jahre zur Ausführung zu bringen.

Letzteres allerdings nur in der bestimmten Voraussetzung, daß der Erlaß des Gesetzes noch in der diesjährigen Aprilsession der

675 Bundesversammlung erfolge. Denn auch in diesem Falle würde mit den Vorbereitungen ohne jeglichen Verzug begonnen werden müssen, und es könnte hierfür nicht erst der Ablauf der Retereridumsfrist abgewartet werden. Die Verwaltung wird also eine im April 1898 beschlossene Volkszählung noch im Monat Dezember des laufenden Jahres durchführen und deren geprüften Ergebnisse in der ordentlichen Junisession 1899 der Genehmigung der Bundesversammlung unterbreiten können. Eine frühere Vorlage (z. B.

in einer außerordentlichen Frühlingssession) könnte nach den letztmaligen Erfahrungen nicht zugesichert werden.

Auf Grund dieser nämlichen Erfahrungen ist anzunehmen, daß auch der auf den neuen Bevölkerungszahlen fußende bundesrätliche Entwurf des Wahlkreisgesetzes gleich anfangs der Junisession 1899 an die Bundesversammlung gelangen könnte. Aber wie, wenn dieses Gesetz nun trotzdem doch nicht in dieser nämlichen Junisession zur endgültigen Verabschiedung gelangen möchte? Man muß diese Frage aufwerfen, wenn man sich erinnert, daß nach der letzten Volkszählung, jener von 1888, der Entwurf der neuen Wahlkreiseinteilung den 7. Juni 1889 an die Bundesversammlung, aber bei dieser, infolge mehrmaligen Hin- und Herwanderns zwischen den beiden Räten, sowie einmaligen Dahinfalles, erst nach mehr als Jahresfrist zum Abschlüsse gelangte. Wenn sich diesmal Ähnliches wiederholte, so wäre eben nichts daran zu ändern, daß, obwohl doch neue Bevölkerungszahlen vorlägen, die Nationalratswahlen im Oktober 1899 für die nächste Wahlperiode noch einmal auf Grund der Bevölkerung von 1888 vorgenommen werden müßten.

Es ist demnach auch bei aller zeitlichen Beförderung, mit der man die nächste Volkszählung durchzuführen vermöchte, keineswegs sicher und nicht einmal sehr wahrscheinlich, daß deren Ergebnisse in der That bei den Nationalratswahlen von 1899 zur Anwendung gelangen könnten. Wenn aber ein neues Wahlkreisgesetz erst bei den Gesamtwahlen von 1902 in Wirksamkeit treten kann, dann werden gerade solche Kantone, die sich einer großen Bevölkerungsvermehrung erfreuen, vorziehen müssen, daß jenes Gesetz nicht auf einer Volkszählung von 1898, sondern auf einer solchen von 1900 aufgebaut werde, da ihnen die letztere eine größere Vertreterzahl sichern kann. Werden wir doch im folgenden noch im Falle sein, z. B. für den Kanton Zürich
als wahrscheinliches Ergebnis einer Volkszählung von 1900 einundzwanzig Vertreter, für eine solche von 1898 aber bloß zwanzig in Aussicht zu stellen.

Obwohl es unter diesen Umständen nicht auffallend wäre, wenn nach unbefangener Prüfung dieser Sachlage die Motionssteiler selbst

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es für den von ihnen vertretenen Kanton vorteilhafter fänden, auf weitern Verfolg ihrer Motion zu verzichten, so soll uns das nicht abhalten, die für diese Motion ins Feld geführten allgemeinen und besondern Gründe in eingehender Weise zu prüfen.

Zu grundsätzlicher Begründung der Motion wird die Behauptung aufgestellt, daß die im Art. 72 der Bundesverfassung festgestellte Berechtigung zu einem Vertreter auf je 20,000 Seelen als ein ,,fortwährend wirkendes Pos.tulata, sagen wir : als ein jederzeit exequierbares Recht, zu betrachten und daß darum ,,überall da, wo ein Landesteil eine Bevölkerungszunahme wahrscheinlich machen könne, welche ihm Anspruch auf vermehrte Vertretung sichere, jene Zunahme durch offizielle Zählung zu erwahren seia.

Erhebliche Bedenken gegen eine solche Auslegung des Art. 72 der Bundesverfassung erregt schon die Thatsache, daß auch sämtliche seh weizerische Kantons Verfassungen ähnliche Bestimmungen enthalten, wie die hier in Frage stehende ist, -- nämlich da, wo in denselben die Zusammensetzung des Großrates (Kantonsrates, Landrates) geregelt wird -- daß aber bis heute noch keine dieser kantonalen Bestimmungen eine solche Auslegung erhalten hat, wie hier für den Art. 72 der Bundesverfassung vorgeschlagen wird. Wo immer die Zahl der Vertreter im Großrat nach der Bevölkerungszahl bemessen ·wird, (in Thurgau und Waadt nach der Wählerzahl) wiederholt sich eine neue Feststellung der Vertreterzahlen nirgends in kurzern Zeiträumen, als in denen zwischen den regelmäßigen Volkszählungen.

Und doch ist die Schweiz auch hierin kein ,,wildes Landa, das in der Ordnung der Volksvertretungen ungewöhnlich hinter ändern Ländern zurückstünde. Das Deutsche Reich, ebenso Preußen, Bayern, Württemberg, Baden etc. haben trotz ihrer viel starkem Bovolkerungszunahme und trotz ihrer häufigem Volkszählungen in ihren Abgeordnetenhäusern bis heute die nämliche Zahl von Vertretern und die nämliche Zuteilung derselben an die Wahlkreise beibehalten, wie vor zwanzig oder mehr Jahren. In Österreich ist das Gleiche der Fall.

Stellt sich so die in der Begründung der Motion Amsler enthaltene Auslegung des Art. 72 der Bundesverfassung jedenfalls als eine ungewöhnliche dar, so ist sie doch nicht eine durchaus originelle. Mit einem genau auf den gleichen Gedanken fußenden Begehren hatte sieh die Bundesversammlung
schon einmal zu beschäftigen. Im Jahre 1875 hatte die ,,landespolitische Abteilung des Arbeiterbundes von Basel und Umgebung"1 das Gesuch eingereicht, ,,die Bundesversammlung möge den Art. 72 der Bundesverfassung der Bevölkerung von Baselstadt gegenüber zur

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Wahrheit machen und beschließen, die genannte Bevölkerung besitze, sofern ein genügender Nachweis dafür erbracht werden könne, daß sie die Zahl von 50,000 Seelen überschritten habe, das Recht auf drei Vertreter irn Nationalratea. -- Dem Antrage des Bundesrates folgend, schritten die eidgenössischen Räte den 8. und 11. März 1876 über dieses Begehren zur Tagesordnung. Aus der Begründung des bundesrätlichen Antrages sei hier das Folgende angeführt.

,,Der Art. 72 der Bundesverfassung stellt nur einen bestimmten Grundsatz auf, die Ausführung desselben mußte besondern Erlassen anheimgestellt bleiben. Es ist klar, daß zur Feststellung der Bevölkerung der Schweiz und der Kantone Volkszählungen vorgenommen werden müssen, auf welche gestützt die Verteilung der Mitglieder des Nationalrates auf die einzelnen Kantone stattzufinden hat. Eine einmal aufgestellte Skala muß notwendigerweise auf eine bestimmte Zeit einen festen Bestand haben und kann nicht jeden Augenblick einem Wechsel unterworfen werden, wenn nicht Unzukömmlichkeiten der verschiedensten Art stattfinden sollen.a (Ausführlicheres siehe in: S a l i s , Schweizerisches Bundesrecht, I, 258.)

In der That würde ein Verfahren, das den grundsätzlichen Forderungen der Motion Amsler entspräche, nicht nur ,,Unzukömmlichkeiten der verschiedensten Art11 zur Folge haben; man wird dasselbe als verständigerweise gar nicht durchführbar bezeichnen, dürfen. Oder betrachten wir, wie das sich in Wirklichkeit gestalten würde, wenn man anerkennen wollte, .^daß überall da, wo ein Landesteil eine Bevölkerungszunahme wahrscheinlich machen könne, welche ihm Anspruch auf vermehrte Vertretung sichere, jene Zunahme durch offizielle Zählung zu erwahren sei". Wird angenommen, daß seit dem 1. Dezember 1888 bis zum gleichen Tage 1898 die Bevölkerung jedes Kantons alljährlich in gleicher Anzahl zugenommen habe, welche als Durchschnitt für den Zeitraum von 1880--1888, oder aber einzelnen Orts durch neuere kantonale (Neueiiburg) oder städtische Zählungen (z. B. Zürich) nachgewiesen wurde, so ergiebt das auf den 1. Dezember 1898 kantonsweise Bevölkerungszahlen, die im ganzen eine Vertretung von 157 Nationalräten zur Folge hätten, statt der gegenwärtigen 147 auf Grund der Zählung von 1888. Man darf also sagen, daß während dem letzten Jahrzehnt durchschnittlich in jedem Jahre einmal
in irgend einem Landesteile die Wahrscheinlichkeit einer Bevölkerungszunahme eingetreten ist, der nach der Motion Arnsler auch eine vermehrte Vertretung hätte folgen müssen, -- falls jene Zunahme vorerst durch eine amtliche Volkszählung erwahrt worden

678 wäre. Das ergäbe also neben den gewöhnlichen eidgenössischen Volkszählungen noch jedes Jahr in irgend einem Kantone eine besondere Nationalratsvolkszählung, z. B. im Jahre 1889 in Zürich, 1890 in Genf, 1891 in St. Gallen, 1892 in Basel, 1893 -wieder in Zürich u. s. w. ! In der That hätten die letztern Zählungen jedesmal wenigstens einen ganzen Kanton zu umfassen, da die Zahl der Vertreter kantonsweise festgestellt und erst nachher auf die ,,Landesteile" oder Wahlkreise verteilt wird. Folgerichtig würden diese Zahlungen sodann auch in jenen Kantonen vorzunehmen sein, für die in der Zwischenzeit die Wahrscheinlichkeit einer Verminderung der Bevölkerung, statt einer Vermehrung, eingetreten wäre. Dazu die jedesmalige Zuteilung des neuen Vertreters an einen der bestehenden Wahlkreise, oder eine neue Umschreibung der letztern. Es würde unter diesen Umständen kaum zu umgehen sein, die beiden Räte der Bundesversammlung mit einem ständigen Wahlkreisausschusse zu versehen.

Allerdings wäre auch im Sinne der Motion Amsler eine Lösung denkbar, bei der jene besondern Nationalratsvolkszählungen überflüssig würden ; man wird sogar sagen müssen, daß sie der Motion noch besser entspräche. Herr Amsler hat nämlich mit Recht daran erinnert, daß die Bevölkerungszahl nicht bloß als Maßstab für die Zahl der Vertreter in den Nationalrat, sondern gleichzeitig auch als Maßstab für die kantonsweise Verteilung der Reineinnahmen aus dem Alkoholmonopol vorgeschrieben ist.

Wir sehen nicht ein, wie sich auf dem Boden der Motion etwas Stichhaltiges gegen die Forderung einwenden ließe, daß um jener Verteilung willen eine eidgenössische Volkszählung in der ganzen Schweiz eigentlich jedes Jahr vorzunehmen sei. Man darf es wohl als überflüssig betrachten, die Unthunlichkeit eines soluhen Begehrens eingehend zu erörtern.

Wir kommen hiernach zu jenen Ausführungen in der Begründung der Motion Amsler, die sich im besondern auf die nächste Volkszählung und auf die Nationalratswahlen vom Jahre 1899, sowie deren Verhältnis zum Kanton Zürich beziehen.

In dieser Richtung wird auf die Erwägungen der Zweckmäßigkeit und Billigkeit hingewiesen, die sich ergeben, wenn man in Betracht ziehe, daß die Vertretung des Kantons Zürich heute noch nach der im Jahre 1888 festgestellten Bevölkerungszahl von 339,000 Seelen (richtig 337,188) zugemessen sei, während an

679 Hand der kantonalen amtlichen Statistik behauptet werden dürfe, daß diese Bevölkerung sich heute um mindestens 80,000 Seelen höher stelle. Daraus folge, wie sehr der Kanton Zürich und im besondern der erste eidgenössische Wahlkreis in seiner Vertretung verkürzt werde ; ebenso in seiner Beteiligung am Ertrage des Alkoholmonopols. (Siehe Ausführlicheres am Eingange dieser Botschaft.)

Wir stellen dem gegenüber in erster Linie fest, daß es in Zürich keine amtliche kantonale Statistik giebt, die für diesen Kanton ,,heute1'' (es sei hierfür der 1. Dezember 1897 angenommen) gegenüber der Zählung von 1888 eine Zunahme um ,,mindestens 80,000 Seelen1' nachzuweisen, oder auch nur wahrscheinlich zu machen vermöchte. In den beiden Städten Zürich und Winterthur ist im Jahre 1896 eine allgemeine Wohnungsuntersuchung durchgeführt und damit auch eine Zählung der Bevölkerung verbunden worden, die für Zürich 137,407 Einwohner (gegen 94,129 im Jahre 1888), in Winterthur 20,558 Einwohner (gegen 15,805 im Jahre 1888) nachwies. Es sind das in der That ganz ungewöhnlich starke Vermehrungen, und sie ergeben, wenn man dieselben auch seit jenen Zählungen bis ,,heute1' fortgesetzt denkt, für die beiden Städte zusammen gegenüber 1888 eine Vermehrung der Einwohnerschaft um rund 55,000. Für die Landgemeinden entbehrt man derartiger neuerer Nachweise. Aber offenbar kann im ganzen Kanton die Bevölkerungszunahme nur dann auf ,,mindestens 80,000a angestiegen sein, wenn dieselbe, neben der anführten städtischen von 55,000, in den Landgemeinden zusammen bei 25,000 betrug, -- während sie hier doch von 1880--88 bloß bei 3,000, von 1870--80 bloß bei 8,000, von 1860--70 bloß bei 1,300, von 1850--60 bloß bei 5,000 erreichte. Eine Zunahme um 25,000, d. h. alljährlich im Durchschnitte bei 12 %o, wäre für die zürcherischen Landgemeinden eine so große, wie sie in der Schweiz bei einer Landbevölkerung ähnlichen Umfanges bisher noch niemals auch nur von ferne erreicht worden ist. Es leuchtet von selbst ein, daß die in der That ungewöhnlich starke Bevölkerungsvermehrung der Städte Zürich und Winterthur durchaus keine Wahrscheinlichkeit dafür bietet, daß ähnliches auch in den Landgemeinden stattgefunden haben werde. Nahe aber liegt der Gedanke, daß sich die große Zunahme der Städte zu namhaftem Teile gerade auf Kosten der Landbevölkerung
vollzogen und so das Wachstum der letztern zurückgehalten haben könnte. Hierfür spricht nämlich neben der bekannten, weitverbreiteten Klage über die Entvölkerung des Landes zu gunsten der Städte im besondern

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bei Zürich der zahlenmäßige Nachweis, daß von den 18,600 Bürgern des übrigen Kantons, welche bei der städtischen Volkszählung vom Jahre 1894 in der Stadt Zürich wohnten, aber auswärts geboren worden waren -- also in Zürich eingewandert sind -- nicht weniger als 8,898, d. h. nahezu die Hälfte, erst seit 1888 in die Stadt gezogen waren. Wenn wir aus den angeführten Gründen die Behauptung, daß die Bevölkerung des Kantons Zürich heute (-- 1. Dezember 1897) mindestens 80,000 Köpfe mehr betrage als im Jahre 1888, mit Entschiedenheit beanstanden und als eine zu weitgehende betrachten, so sind freilich auch wir nicht im Falle, hierfür eine genaue und gesicherte Zahl anzugeben. Wird für die Gesamtheit der Landgemeinden und für die Zeit seit 1888 der gleiche jährliche Zuwachs angenommen, wie ein solcher von 1880--88 stattfand, so ergiebt dies mit der weiter oben auf heute berechneten Zunahme der städtischen Bevölkerung zusammen seit 1888 eine Vermehrung von nicht ganz 60,000 und damit für den ganzen Kanton eine Gesamtbevülkerung von nicht ganz 400,000.

Vielleicht werden die Motionssteiler einwenden, daß schon die Nichtberücksichtigung einer Bevölkerung von 60,000 eine große Unbilligkeit darstelle ; denn sie bedeute während einer ganzen Amtsdauer Verkürzung um drei Vertreter im Nationalrate und daneben während zweier Jahre eine sehr bedeutende Verkürzung bei der Verteilung der Erträgnisse des Alkoholmonopols. Letztere ergeben gegenwärtig jährlich bei Fr. 2 auf den Kopf, betragen also für 60,000 Seelen in einem Jahre bei Fr. 120,000 und in den zwei Jahren zusammen bei Fr. 240,000. Das sei eine Summe, auf die auch der Kanton Zürich nicht so leichthin verzichten könne und um die er sich jedenfalls anständig wehren dürfe.

Nun halten auch wir für wahrscheinlich, daß z. B. der Kanton Schwyz oder der von Außerrhoden sich ernsthaft beschweren würden, wenn man ihnen während einer Amtsdauer ihre gegenwärtigen drei Vortreter im Nationalrate und ihre Alkoholgelder vollständig vorenthalten wollte. Bei genauerem Zusehen bemerkt man indessen, daß sich die Sache beim Kanton Zürich durchaus anders verhält und daß hier von einer namhaften Unbilligkeit überhaupt nicht gesprochen werden kann. Es ist oben angegeben, unter welcher Voraussetzung die Bevölkerungszunahme des Kantons Zürich von 1888 bis ,,heute" nicht ganz 60,000
beträgt; eine verhältnismäßig gleich starke Zunahme während des laufenden Jahres wird diese Zahl auf 1. Dezember 1898, d. h. im Zeitpunkte der durch die Motion vorgeschlagenen Zahlung, auf rund 65,000 ansteigen lassen und damit für den Kanton eine Gesamt-

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bevölkerung von 402,000, d. h. die Berechtigung von 20 Vertretern, statt der bisherigen 17, ergeben. Aber es nimmt niemand an, daß jene Bevölkerungszunahme nach dem 1. Dezember 1898 aufhören werde ; ihre gleichmäßige Fortsetzung bis zu einer Volkszählung, die erst den 1. Dezember 1900 stattfindet, wird für den Kanton Zürich im letztgenannten Zeitpunkte eine Bevölkerung von etwas über 415,000 und damit die Berechtigung von 21 Vertretern statt der bisherigen 17 zur Folge haben. Also: entweder von den Neuwahlen von 1899 an 20 Vertreter, oder aber von den Neuwahlen von 1902 an 21 Vertreter, beidemal ungefähr für das folgende Jahrzehnt. Je nachdem die nächste Volkszählung im Jahre 1898 oder erst im Jahre 1900 durchgeführt wird, ergäbe sich demnach für den Kanton Zürich in den je darauf folgenden drei nächsten Wahlperioden die folgende Vertretung im Nationalrate : Volkszählung v. 1898. Volkszählung v. 1900.

Wahlperiode 1899--1902 1902--1905 fl ,, 1905--1908 ,, 1908--1911 Durchschnitt

20 Vertreter 20 ,, 20 ,, 20 ,,

17 Vertreter 21 ,, 21 ,, 21 ,,

20 Vertreter

20 Vertreter

Wir fragen hier doch wohl mit gutem Grunde : Wo ist da eine Benachteiligung oder Verkürzung, die ein besonderes Aufheben zu rechtfertigen vermöchte?

Und da, wie ohne weiteres einzusehen ist, bei der Beteiligung am Ertrage des Alkoholmonopols eine ähnliche annähernde Ausgleichung stattfindet, so glauben wir, durch unsere Ausführungen auch die vom besonderen Standpunkte des Kantons Zürich aus vorgebrachten Gründe zur zeitlichen Beförderung der nächsten Volkszählung als unstichhaltige nachgewiesen zu haben.

Wenn man fragt, was sich vielleicht noch von ändern Standpunkten aus, als den von den Motionsstellern eingenommenen, über eine frühere Durchführung der nächsten Volkszählung sagen lasse, so ist ohne weiteres zuzugeben, daß die Vergleichung und Verwendung der Zählergebnisse einigermaßen erschwert wird, wenn die Zählungen durch verschieden lange Zeiträume voneinander getrennt werden. Es ist ferner zuzugeben, daß in letzterer Beziehung für schweizerische Verhältnisse ein zehnjähriger Zeitraum im allgemeinen als ein so passender angesehen werden kann, daß nicht ohne ganz gewichtige Gründe davon abgegangen werden sollte.

Diesen beiden Rücksichten für sich einzig würde nun in der That

682 besser entsprochen, wenn die nächste Volkszählung im Dezember 1898 vorgenommen und die künftigen zehnjährigen Zählpcrioden dann auch von diesem Datum aus gerechnet würden. Aber andere Erwägungen verbieten uns wieder entschieden, Ihnen einen solchen Vorschlag zu machen. Gerade darum, weil die Volkszählungsergebnisse als Maßstab der Volksvertretung und bedeutender fiskalischer Genüsse zu dienen haben, muß mit aller Sorgfalt daraufgehalten werden, diesem Maßstabe das Ansehen vollster Unparteilichkeit und kalter Rücksichtslosigkeit zu bewahren. Dieses Ansehen würde aber geschwächt, wenn auch nur der Schein entstünde, daß für die Anlegung dieses Maßstabes das eine Mal vorübergehende besondere Interessen des einen Kantons, ein anderes Mal die eines ändern Kantons oder einer ändern Gegend von Einfluß gewesen seien.

Wir fürchten, daß eine gegenwärtig beschlossene Beschleunigung der nächsten Volkszählung einem solchen bösen Scheine nicht zu entgehen vermöchte, wenn auch jener Beschluß in Wirklichkeit aus ändern, allgemeinern Gründen gefaßt würde. Warum dann alle ändern Kantone sich nicht in ähnlicher Weise zur jederzeitigen Geltendmachung ihrer wirklichen oder vermeintlichen, wenn auch nur vorübergehenden Interessen anschicken sollten? Daß dieses in der That der Fall wäre, dafür zeugt in deutlichster Weise die durch die zürcherische Motion unmittelbar hervorgerufene Motion Hochstraßer-Fonjallaz, zu der wir nun übergehen.

Wir betrachten vorerst die grundsätzliche Seite der unserer Untersuchung vorgelegten Frage. Die Motionssteller finden es als unrichtig, daß beim gegenwärtigen Maßstabe der Vertretung im Nationalrate, dem der Gesamtbevölkerung, auch die Ausländer mitzählen, obwohl dieselben ja ,,weder die aktive noch die passive Wahlfähigkeit besitzen", und die Motionssteller halten ferner dafür, daß sich aus dem genannten Verhältnisse in Wirklichkeit ein ungebührliches Privileg für die Städte und Städtekantone gegenüber den landwirtschaftlichen Kantonen ergebe. Was die erste dieser Anschauungen betrifft, nämlich die, daß das Mitzählen der Ausländer hier d a r u m grundsätzlich ungehörig sei, weil die Ausländer auch keine Wahlfähigkeit besitzen, machen wir darauf aufmerksam, daß die Motionssteller ob dieser ihrer Behauptung selbst stutzig geworden und in deren Ausführung auf halbem Wege stehen geblieben sind. Eine konsequente Ausführung hätte ja notwendig zu der Folgerung geführt, daß in Zukunft nur noch die Zahl der S t i m m f ä h i g e n für die Vertreterzahlen maßgebend

683

sein dürfe, weil auch die Frauen, Kinder u. s. w. ,.,weder die aktive noch die passive Wahlfähigkeit besitzen."· Man fragt sich, warum die Motionssteller diese naheliegende, ja unaWeisliclie Folgerung nicht zogen. Handelt es sich bei dieser Motion vielleicht mehr um ein Suchen nach momentanen Vorteilen, als um eine grundsätzlich bessere Ordnung des bisherigen Verhältnisses?

Freilich wird niemand behaupten, daß die gegenwärtige Vertretung nach dem Maßstabe der Gesamtbevölkerung etwas durchaus und unter allen Umständen Vollkommenes sei, daß sie nach keiner Seite hin theoretische Mängel darbiete. Diese Eigenschaft kommt keiner staatlichen, keiner menschlichen Einrichtung zu, -- auch nicht der Vertretung nach dem Maße der schweizerbürgerlichen Bevölkerung, oder nach der Zahl der Stimmberechtigten.

Wenn man die lebhaften Verhandlungen nachliest, die über diese verschiedenen Grundlagen der Volksvertretung vor wenigen Jahren im zürcherischen Kantonsrate, und die nicht minder lebhaften, die seiner Zeit im waadtländischen Verfassungsrate geführt wurden, so sieht man, daß in der That jedem jener drei Systeme Gutes und Schlechtes nachgesagt werden kann, und niemand zweifelt daran, daß dies dort allseitig mit der gleich aufrichtigen Überzeugung geschehen ist. Aber selbst wenn es nicht bestritten würde, daß, theoretisch genommen, dem einen jener Systeme durchaus der Vorzug gebühre, so wäre das für sich einzig hier doch nicht entscheidend. Es mag etwas vom Katheder herab und in Lehrbüchern als das Richtigste dargestellt werden können -- für die Gesetzgebung eines Volksstaates ist doch erst das das Richtige, was auch im allgemeinen Bewußtsein und in der Volksanschauung als solches Anerkennung gefunden hat.

Wie es sich in letzterer Beziehung in der Schweiz verhält, darüber scheint uns lehrreicher Aufschluß geboten in der nachfolgenden Darstellung, auf welchen Grundlagen die k a n t o n a l e n Volksvertretungen eingerichtet sind. Wir hielten es von Wert, nicht bloß den heutigen Stand dieser Verhältnisse, sondern in zulässigem Rahmen auch deren geschichtliche Entwicklung darzustellen. Es geschieht dies dadurch, daß neben dem Stande von Ende 1897 auch der vom Jahre 1864 und der vom Jahre 1844 vorgeführt wird. Diese zwei Jahre wurden gewählt, weil für das eine die erste amtliche Gesamtausgabe der schweizerischen
Kantonsverfassungen (Lausanne, 1864), für das andere das ,,Handbuch dos schweizerischen Staatsrechtesa von Dr. L. Snell (2. Band, Zürich, 1844 und 45) als leicht zugängliche Quelle zu Gebote stand.

684

Die kantonalen Volksvertretungen im Jahre 1897.

Datum der Verfassung.

Kanton.

Zürich . . 1894, Bern . . . 1893, Luzern .

Uri

.

. .

Schwyz .

Obwalden .

Nidwaiden .

Glarus

.

.

Zug . .

Freiburg

Solothurn Baselstadt Baselland .

Sehaffhausen Außerrhoden Innerrhoden St. Gallen .

Graubünden Aargau .

Thurgau Tessin

.

.

.

Waadt .

.

Wallis .

.

Vertretung.

8,12. Auf 1500 Schweizerbürger l Mitglied.

6, 4. Auf 2500 Seelen der Wohnbevölkerung l Mitglied.

1882, IO, 11. Auf 1000 Seelen der schweizerischen Wohnbevölkerung l Mitglied.

1888, 5, 6. Auf 400 schweizerische Einwohner l Mitglied.

1876, 6,11. Auf 600 Seelen der Wohnbevölkerung l Mitglied.

1867,10, 27. Die 80 Mitglieder werden nach der Gesamtbevölkerung verteilt.

1877, 4, 2. Auf 250 Seelen der rechtlichen Bevölkerung, mit Ausschluß der Ausländer, l Mitglied.

1887, 5.22. Auf 500 Seelen der Bevölkerung l Mitglied.

1894, 1,31. Auf 350 Einwohner l Mitglied.

1857, 5, 7. Auf 1200 Seelen der Bevölkerung l Mitglied.

1887,10, 23. Auf 800 Einwohner l Mitglied.

1889,12, 2. Die 130 Mitglieder werden im Verhältnis der Bevölkerung verteilt.

1892, 4, 4. Auf 800 Seelen l Mitglied.

1876, 3,24. Auf 500 Seelen der Gesamtbevölkerung l Mitglied.

1876,10,15. Auf 1000 Einwohner l Mitglied.

1872,11,24. Auf 250 Seelen l Mitglied.

1890,11,16. Auf 1500 Seelen l Mitglied.

1892,10, 2. Verteilung nach dem A^erhältnisse der Bevölkerung.

1885, 4,23. Auf 1100 Einwohner l Mitglied.

1869, 2, 28. Auf 250 Stimmberechtigte l Mitglied.

1892, 7, 2. Auf 1200 Seelen der niedergelassenen tessinischen und schweizerischen Bevölkerung l Mitglied.

1885, 3, 1. Auf 300 eingeschriebene Wähler l Mitglied.

1875,11,26. Auf 1000 Seelen Bevölkerung l Mitglied.

685 Datum der Verfassung.

Kanton.

Vertretung.

Neuenburg . 1858,11, 21. Auf 1000 Seelen Bevölkerung l Mitglied.

Genf . . . 1882,10, 29. Auf 1000 Einwohner l Mitglied.

Zusammenzug: Zwei Kantone (Thurgau und Waadt) wählen nach der Zahl der Stimmberechtigten, 5 Kantone (Zürich, Luzern, Uri, Nidwaiden und Tessin) nach der Zahl der schweizerbilrgerlichen Bevölkerung, die übrigen 18 Kantone nach der Gesamtbevölkerung.

Die kantonalen Volksvertretungen im Jahre 1864.

Datum der Verfassung.

Kanton.

Zürich

. . 1837,12,19.

Bern . . . 1846, 7, 31.

Luzern

.

. 1863, 3, 29.

Uri ...

1850, 5, 5.

Schwyz . . 1848, 2, 27.

Obwalden . 1850, 4,23.

Nidwaiden . 1850, 4, 1.

Glarus

.

. 1842, 5,22.

Zug . .

. 1848, l, 8.

Vertretung.

Auf 1200 Seelen l Mitglied und dazu auf je 20,000 Seelen des Kantons l Mitglied d u r c h d ö n G r o ß e n Rat g e w ä h l t .

Auf 2000 Seelen Bevölkerung l Mitglied.

Die 100 Mitglieder wurden ',,im Verhältnis der Bevölkerung"1' verteilt.

Auf 300 Seelen l Mitglied.

Die 81 Mitglieder wurden nach dem Verhältnisse der Aktivbürger verteilt.

Auf 83 Einwohner l Mitglied.

Die 61 Mitglieder wurden durch die Landsgemeinde, also in einem Wahlkreise gewählt und, wie es scheint, ohne daß hiebei eine bestimmte Verteilung vorgeschrieben war.

Verteilung der 105 Mitglieder ,,nach Maßgabe der Bevölkerung", dazu 3 mittelbar gewählte Mitglieder zur Berücksichtigung der katholischen Minderheiten.

Auf 60 anwesende majorenne Gemeindebürger l Mitglied.

Bundesblatt. 50. Jahrg. Bd. II.

45

686 Kanton

-

der fertLng.

***"» . 1857, 5,24. Auf 1200 Seelen der Bevölkerung l Mitglied.

Solothura . 1856, 6, 1. Auf 650 Einwohner l Mitglied.

Baselstadt . 1858, 2,28. Verteilung hauptsächlich (nicht ausschließlich) nach der Zahl der Stimmberechtigten.

Baselland . 1863, 3, 6. Auf 800 Seelen l Mitglied.

Schaffhausen 1852, 4, 5. Auf 600 Seelen l Mitglied.

Außerrhoden 1858,10, 3. Auf 1000 Einwohner l Mitglied.

Innerrhoden. 1829, 4,26. Jeder Wahlkreis (,,Rhodett) hatte gleichviele Vertreter.

St. Gallen . 1861,11,17. Auf 1200 Seelen l Mitglied.

Graubünden. 1853,10,24. Verteilung nach dem Verhältnis der Bevölkerung.

Aargau . . 1852, 2,22. Auf 260 stimmberechtigte Bürger l Mitglied.

Thurgau. . 1849,11, 9. Auf 220 simmberechtigte Kantonseinwohner l Mitglied.

Tessin . . 1830, 7,12. Jeder Wahlkreis hatte gleichviele Vertreter.

Waadt . . 1861,12,15. Auf 1000 Einwohner l Mitglied.

Wallis . . 1852,12,23. Auf 1000 Seelen der Bevölkerung l Mitglied.

Neuenburg . 1858,11, 21. Auf 1000 Seelen der Bevölkerung l Mitglied.

Genf . . . 1847, 5,24. Auf 666 Einwohner l Mitglied.

Freiburg

Zusammenzug: Während l Kanton (Nidwaiden) überhaupt von einer bestimmten Verteilung absah und 2 Kantone (Innerrhoden und Tessin) allen -- noch so ungleich großen -- Wahlkreisen die gleiche Vertretung einräumten, wählten daneben 5 Kantone (Schwyz, Zug, Aargau, Thurgau und Baselstadt; letzteres wenigstens der Hauptsache nach) nach der Zahl der Simmberechtigten, die übrigen 17 Kantone nach Maßgabe der Gesamtbevölkerung.

6ö7

Die kantonalen Volksvertretungen im Jahre 1844.

Kanton.

Zürich

Datum der Verfassung.

Vertretung.

. . 1837,12,19. Auf 1200 Seelen l Mitglied und d a z u auf je 20,000 Seelen des Kantons l Mitglied d u r c h den . G r o ß e n Rat g e w ä h l t .

Bern . . . 1831, 7,31. 200 Mitglieder im Verhältnis der Bevölkerung verteilt, dazu 40 durch den Großen Rat gewählte Mitglieder, -- doch so, daß im ganzen > nicht mehr als l/a sämtlicher Mitglieder auf die Hauptstadt fallen durften.

Luzern .

1841, 5, 1. Verteilung im Verhältnis der Bevölkerung.

Uri . .

1820, 5, 7. Jede ^Genoßame"1 gleich viele Vertreter.

1833,10,11. ,,Nach dem Verhältnisse der BevölSchwyz .

kerung."1 Obwalden 1816, 4,28. Die 2 ^großen" Gemeinden je 45, die übrigen Gemeinden je 21 Vertreter.

Nidwaiden . 1816, 8,12. Die Mitglieder waren in der Verfassung fest auf die Wahlkreise verteilt, nach welchem Maßslabe ist nicht ersichtlich.

Glarus . . 1842, 5,22. ,,Nach Maßgabe der Bevölkerung" ; siehe im weitern auf der vorvorigen Seite.

Zug ...

1814, 9, 5. Das ,,innere"1 und das ,,äußere"1 Amt hatten gleichviele Vertreter, die dann durch die Verfassung fest auf die Gemeinden verteilt waren ; nach welchem Maßstabe ist nicht ersichtlich.

Freiburg . 1831, 1,24. Auf 1000 Seelen l Mitglied.

Solothurn . 1841, 1,10. In der Verfassung fest verteilt ,,im Verhältnisse der Bevölkerung nach der Zählung von 1837".

688 Datum der Verfassung.

Kanton.

Baselstadt

9,28. Hauptsächlich nach der Zahl der Stimmberechtigten.

1838, 8, 1. Auf 600 Seelen l Mitglied.

1834,12, 24. Die Stadt hatte 18, das Land 60 Mitglieder,' letztere in der Verfassung fest verteilt.

1834, 8,31. Auf 1500 Einwohner l Mitglied; doch keine Gemeinde mehr als 3 Mitglieder.

1829, 4,26. Jeder Wahlkreis (.^Rhode") gleichviele Mitglieder.

1831, 3, 1. Die Stadt 15, das Land 135 Mitglieder, letztere im Verhältnis der Kantons- und der niedergelassenen Schweizerbürger.

1836, 3, 7. Durch Gesetz (nicht Verfassung) von vorgenanntem Datum waren die Vertreter verteilt ,,nach dem' Verhältnis der wirklichen für die Repräsentanz zählbarenBevölkerung1'.

1841, l, 5. Auf 180 Stimmfähige l Mitglied.

1837, 6,17. Verteilung nach der Seelenzahl.

1830, 7,13. Jeder Wahlkreis gleichviele Vertreter.

1831, 7, 8. Verteilung nach der Bevölkerung.

1844, 9,14. Auf 1000 Seelen der Bevölkerung, das heißt Walliser oder seit 6 Jahren im Kantone niedergelassene Schweizerbürger, l Mitglied, dazu der Bischof und 2 Vertreter der Geistlichkeit.

1831, 6,22. Auf 500 neuenburgische Seelen Csujets de TEtat) l Mitglied, dazu 10 Mitglieder frei vom Könige gewählt.

1842, 6, 7. Auf 333 Einwohner l Mitglied.

. 1833,

Baselland .

Schaffhausen Außerrhoden Innerrhoden.

St. Gallen

Vertretung.

.

Graubünden.

Aargau .

Thurgau .

Tessin Waadt .

Wallis .

Neuenburg .

Genf . . .

Zusamm enzug: Während 4 Kantone (Uri, Innerrhoden, Tessin und Obwalden, letzteres mit einer Ausnahme für 2 Gemeinden) jedem Wahlkreise die gleiche Vertreterzahl einräumten, 2 Kantone (Aargau und Baselstadt, letzteres wenigstens der Hauptsache nach) die Zahl der Stimm-

689

fähigen, 2 Kantone (St. Gallen und Wallis) die schweizerbürgerliche Bevölkerung, l Kanton (Neuenburg) die kantonsbürgerliche Bevölkerung als Maßstab der Vertretung aufgestellt hatten, und bei 3 Kantonen (Nidwaiden, Zug und Schaffhausen) überhaupt ein bestimmter Maßstab nicht sicher zu erkennen ist, blieben so noch 13 Kantone, in denen die Vertretung nach Maßgabe der Gesamtbevölkerung erfolgte, wobei doch an einigen Orten (z. B. in Zürich, Bern) gewisse beschränkte Ausnahmen beibehalten worden waren.

Wir heben aus dem, was uns dieser eingehende geschichtliche Rückblick auf die Wandlungen des öffentlichen Rechts und der Volksanschauungen über die Grundlage der Volksvertretung gezeigt hat, das Folgende besonders hervor.

Für die Vertretung nach der Zahl der S t i m m f ä h i g e n -- dieser einzig konsequenten Folgerung aus dem, was zur Begründung der heutigen Motion Hochstraßer vorgebracht wurde -- ist in den neueren konstitutionellen Entwicklungen ein entschiedener Rückgang nachgewiesen. Von den 2 Kantonen, die dieses System schon im Jahre 1844 hatten, hat keiner, und von den 5 Kantonen, die dasselbe im Jahre 1864 hatten, hat ein einziger dasselbe bis heute beibehalten, und diesem letztern hat sich auch seit 1864 nur ein weiterer Kanton zugesellt. Der einmal gewonnenen erheblicheren Ausdehnung ist wieder eine ebensolche Einschränkung nachgefolgt, so daß auch heute die Zahl der Stimmfähigen nur in 2 Kantonen als Maßstab der Volksvertretung dient, -- wie dies schon vor 50 Jahren der Fall war.

Einer größern Bevorzugung hatte sich bei den neuern Verfassungsänderungen die Volksvertretung n a c h der Z a h l der s c h w e i z e r b ü r g e r l i c h e n B e v ö l k e r u n g zu erfreuen. Wohl haben die 2 Kantone (St. Gallen und Wallis), die diesen Maßstab schon im Jahre 1844 handhabten, ihn später wieder aufgegeben, so daß derselbe denn auch im Jahre 1864 in keinem Kantone in Geltung war ; doch ist derselbe seither wieder in das kantonale Verfassungsrecht eingeführt worden. Von den heutigen Verfassungen, die diesen Maßstab vorschreiben, ist die von Nidwaiden, vom Jahre 1877, die älteste; ihr folgten Luzern im Jahre 1882, Uri im Jahre 1888, Tessin im Jahre 1892 und Zürich (durch eine Partialrevision) im Jahre 1894.

Wenn es beim ersten Anblicke scheinen mag, daß dieser mehrfache Übergang zu einer neuen
Vertretungsgrundlage dafür spreche, daß eben diese Grundlage in den Rechtsanschauungen der neueren Zeit als die richtigste anerkannt werde, so zeigen doch die folgenden Betrachtungen, daß ein solcher Schluß allermindestens

690 als ein voreiliger bezeichnet werden darf. In der That wählen heute 5 Kantone ihre Volksvertreter nach der Zahl der schweizerbürgerlichen Bevölkerung, während dies im Jahre 1864 in keinem Kantone der Fall war; aber im Jahre 1864 wählten auch 5 Kantone die Volksvertreter nach der Zahl der Stimmfähigen -- und heute ist dies nur noch in zweien der Fall. Es weist letzteres darauf hin, daß auch in verfassungsrechtlichen Schöpfungen etwa Proben und Versuche gemacht werden, von denen sich in der nachfolgenden Erfahrung nicht alle bewähren. Wodurch kann man begründen, daß diese Bewährung doch im besondern für die Vertretung nach der Zahl der Schweizerbürger durch die bisherigen Erfahrungen bereits nachgewiesen sei, da diese Erfahrungen vorwiegend noch so kurzzeitige sind? -- Und wie sollte überhaupt und irgendwann die Rechtsanschauung von 5 Kantonen mehr beweisen und mehr Geltung haben, als die von 18 Kantonen, die ihrer Volksvertretung heute noch die Gesamtbevölkerung zu Grunde legen. Daß letzteres keineswegs geschieht aus bloßem Hange am Hergebrachten oder wegen der Schwierigkeiten einer Neuerung, geht daraus hervor, daß von jenen 18 Kantonen nicht weniger als 14 ihre Verfassung geändert haben, seit durch die nidwaldnerische Verfassung von 1877 die Volksvertretung nach der Zahl der Schweizerbürger als Beispiel zur Nachahmung aufgestellt worden \var. So lassen diese verfassungsrechtlichen Entwicklungen der Kantone viel eher annehmen, daß in den Rechtsanschauungen der schweizerischen Bevölkerung die Volksvertretung nach der Gesamtbevölkerung heute noch die überwiegendere Anerkennung habe, als die nach der bloßen schweizerbürgerlichen Bevölkerung. -- Daß aber diese Anschauungen verschiedene seien, je nachdem es sich um die Volksvertretung im Bunde oder um die in den Kantonen handelt, dafür wird kaum auch nur der schwächste Anhaltspunkt namhaft gemacht werden können. Erklären ja in dieser Beziehung die Motionssteller selbst : ,,Was in den Kantonen, sollte aber auch im Bunde Rechtens sein."1

Nichts erheblich Besseres und nichts Entscheidendes zu gunsten der Motion Hochstraßer scheint uns endlich die Betrachtung ihrer praktischen Seite zu bieten. Wäre die Vertretung nach der Zahl der Schweizerbürger heute schon Vorschrift, so ergäbe sich (nach den Volkszählungsergebnissen von 1888) für die folgenden Kantone eine andere Vertreterzahl im Nationalrate als die heutige auf Grund der Gesamtbevölkerung.

691 Kanton Zürich . .

Bern . .

Sehwyz Baselstadt Graubünden Aargau Tessin .

Waadt . .

Genf . .

.

.

Gesamtbevölkerung 1888

Schweizerbürger 1888

337,183 536,679

303,200 521,655 48,693 48,539 87,246 188,216 108,468 229,784 65,599

.

50,307 73,749 94,810

.

.

193,580 126,751 247,655 105,509

Nationalräte nach der schweizerbllrgerl.

Gesamt. bevölkerung Bevölkerung

Die übrigen 16 Kantone, bei denen die Bevölkerungszahlen von 1888 keinen Unterschied der Vertretung zur Folge hätten Schweiz, im ganzen:

17 27 3 4 5 10 6 12 5

15 26 2 2 4 9 5 11 3

89

77

58

58

147

135

Man überzeugt sich hier leicht, daß es eine durchaus irrige Vorstellung ist, wenn man annimmt, die gegenwärtige Vertretungsweise komme in ausschließlicher oder besonderer Weise den städtischen und industriellen Kantonen zu gute, im Gegensätze zu den landwirtschaftlichen Kantonen. Denn neben Zürich, Baselstadt und Genf, die jetzt zusammen in der That 6 Vertreter mehr haben, als bei bloßer Berücksichtigung der Schweizerbürger, finden sich (> weitere Kantone, ausschließlich solche, in denen die landwirtschaftliche Bevölkerung verhältnismäßig stärker vertreten ist, als im Gesamtdurchschnitte der Schweiz, die aber zusammen ebenfalls 6 Vertreter mehr haben, als nach den Forderungen der Motion Hochstraßer.

Wenn überhaupt von Begünstigung gesprochen werden kann, wo giebt es eine genauere Ausgleichung derselben zwischen den beiden gegeneinander ins Feld geführten Parteien, als gerade hier? Man wird durch die vorgeführten Zahlen inné, daß die ausländische Bevölkerung nicht b l o ß nach ihrer absoluten Stärke auf die Vertreterzahlen einwirkt, sondern daneben noch in einem ganz zufälligen Verhältnisse, so daß unter Umständen auch eine kleine Zahl von Ausländern die Vertreter eines Kantons um einen erhöhen kann (siehe z. B. oben bei Schwyz). Offenbar ist es das mehrfache Auftreten dieses Verhältnisses, welches die scheinbare Begünstigung der städtischen Gegenden, gegenüber den landwirt-

692 schaftlichen, in so unerwartet vollkommener Weise zur Ausgleichung gebracht hat. Gewiß ist es möglich, daß später, bei noch stärkerem Anwachsen der Ausländer in der Schweiz, jene Ausgleichung etwa einmal etwas weniger vollkommen zu stände kommt, als dies heute der Fall ist. Aber wer wird bestreiten, daß man bei der Regelung der öffentlichen, staatlichen Einrichtungen die thatsächlichen Verhältnisse der Gegenwart vor den bloßen Möglichkeiten der Zukunft zu berücksichtigen habe?

Wir haben es als angemessen betrachtet, in dieser Angelegenheit, um ihres allgemein politischen Inhaltes willen, auch die Ansichten der Kantonsregierungen zu vernehmen. Durch die Ergebnisse dieser Umfrage sind jene unserer eigenen Untersuchungen nur bestätigt worden. Auf die Frage nach der Ansicht der Regierungen über die Vornahme einer Bundesrevision im Sinne der Motion Hocbstraßer-Fonjallaz, lehnte eine Regierung (Wallis) eine Meinungsäußerung hierüber ab und von den übrigen erklärten sich 7 für und 17 g e g e n die Motion; jene 7 (Luzern, Uri, Schwyz, Obwalden, Nidwaiden, Zug und Waadt) vertreten zusammen eine Bevölkerung von 501,181, die ändern 17 zusammen eine solche von 2,314,588. Selbstverständlich können hier diese Äußerungen der Kantonsregierungen nicht in ihrem ganzen Umfange wiederholt werden ; aber es sei uns doch gestattet, einige Beispiele anzuführen.

. L u z e r n spricht seine Ansicht für die Motion in folgender Weise aus : ,,Da in unserm Kanton somit der Grundsatz der Motion Hochstraßer-Fonjallaz von jeher bestand und derselbe im Jahre 1882 durch die Verfassungsrevision ohne nennenswerte Opposition im Volke ausdrücklich sanktioniert wurde, stehen wir nicht an, denselben auch für die Wahlen in den Nationalrat zu empfehlen.

Wir sind der Meinung, daß in der Schweiz nur die schweizerische Bevölkerung ein Element des politischen Lebens bilde ; nur die schweizerische Bevölkerung soll politische Rechte ausüben. Ist dies richtig, so ist es durchaus unlogisch, die ausländische Bevölkerung bei der Verteilung der Nationalratsmandate mitzuzählen, es beruht letzteres auf der Fiktion, daß die ausländische Bevölkerung auch politische Rechte genieße. Allerdings müßte konsequenterweise, wenn die stimmfähige Bevölkerung für die Wahlen in den Nationalrat maßgebend ist, die Zuteilung der Nationalratssitze auf die einzelnen Kreise auf Grundlage der Zahl der stimmfähigen Bürger erfolgen. Dieser theoretisch allein richtige Zuteilungsmodus

693 müßte sich aber praktisch schon aus dem einzigen Grunde als undurchführbar erweisen, weil er zur Voraussetzung hat, daß das Stimmrecht in eidgenössischen Angelegenheiten in unserm Lande einheitlich geregelt sei. Das ist aber bekanntlich nicht der Fall, indem die Stimmrechtsausschlußgründe von Kanton zu Kanton verschieden sind. Auch müßte die Verteilung nach Maßgabe der Stimmberechtigten zu beständigen Streitigkeiten und Rekriminationen führen, während die eidgenössische Volkszählung die Vertretungsberechtigung der einzelnen Wahlkreise in unanfechtbarer Weise für zehn Jahre feststellt."1 0 b w a l d e n äußert sich so : ,,Im übrigen läßt sich unseres Ermessens nicht verkennen, daß der Motion Hochstraßer und Fonjallaz volle Berechtigung zukommt und müssen, wir uns ohne weiteres zu gunsten der in ihr geltend gemachten Grundsätze erklären. Es erscheint uns als unzulässig oder wenigstens ganz unbillig, daß Einwohner, welche doch zum Vornherein von jeder Bethätigung an den Nationalratswahlen ausgeschlossen sind, auf die Zahl der Mandate für den Nationalrat einen da und dort sogar wesentlichen Einfluß ausüben sollen. Von einer Einschränkung der Mandate nach der Zahl der Aktivbürger würden wir indessen, als zu weitgehend, Umgang nehmen. a Die übrigen Kantone dieser Richtung beschränken die Begründung ihrer Ansicht auf den Hinweis, daß der von der Motion vertretene Grundsatz auch mit ihrem eigenen öffentlichen Rechte übereinstimme, oder sie verzichten überhaupt auf eine Begründung.

Unter den Antworten jener Regierungen, die sich gegen die Motion aussprechen, finden sich mehrere so ausführliche Aktenstücke, däss wir uns hier notwendig auf eine kleine Auswahl beschränken müssen. Da übrigens sämtliche Akten Ihren Kommissionen zur Verfügung stehen, machen wir neben den hiernach abgedruckten Antworten von Zürich und Genf noch besonders aufmerksam auf jene von Bern, Baselstadt und Aargau.

Z ü r i c h schreibt: ,,Der Regierungsrat des Kantons Zürich empfiehlt Ihnen Ablehnung der Motion Hochstraßer. Diese Motion liegt nicht im Sinne der Richtung, welche die Politik unseres Bundesstaates in den letzten 50 Jahren eingeschlagen hat; sie ist weder gerecht noch weise, sie würde auch für die künftige politische Entwicklung unseres Vaterlandes nicht von segensreicher Bedeutung sein. Der Grundgedanke der Motion
Hochstraßer ist nicht neu ; er führt uns zurück in jene Zeit, da in der alten Eidgenossenschaft der Gegensatz zwischen Städten und Ländern mächtig war. Die Geschichte aber lehrt uns, dass jene Zeiten nicht den

694 politischen Höhepunkt unseres Landes darstellen. Aus der Eifersucht zwischen Städten und Ländern ist der Entwicklung der Eidgenossenschaft viel Abbruch und Unsegen erwachsen; sie hat Streit und Zwietracht in die Reihen der Bundesbrüder gebracht und ihre Kraft geschwächt. Durch die Grundlagen der seit 1848 bestehenden Bundesverfassung mit ihrem System der Volks- und Ständevertretung wollte jene alte Gefahr begraben werden, und nun sollten wir heute eine Maßregel treffen, die geradezu geeignet ist, sie neuerdings heraufzubeschwören, die ihre Spitze mit'vollem Bewußtsein gegen einen Teil der Bundesglieder kehrt und in denselben das Gefühl der Zurücksetzung und Kränkung wecken müßte. Die Ausführung der Motion Hochstraßer hätte eine Revision der Bundesverfassung mit Volksabstimmung zur Folge ; schon die Beratungen im Schöße der beiden Räte würden die Gefahr eines wenig erquicklichen Verlaufes in sich schließen, nicht minder die darauf folgende Abstimmungsagitation die Gefahr einer bleibenden Verbitterung. Es giebt zur Zeit ohne Zweifel dringlichere und fruchtbarere Probleme, welche ihrer Lösung und Erledigung auf dem Gebiete des Bundes harren und dieselbe nur durch einträchtiges Zusammenwirken Aller zu finden vermögen. In die fruchtbare gesetzgeberische Arbeit der eidgenössischen Räte und des Volkes würde eine weitere Verfolgung der Motion Hochstraßer wie ein Zankapfel hineinfallen, der jedenfalls mehr Schlimmes als Gutes stiftete. Seit 50 Jahren besteht die Bestimmung des gegenwärtigen Art. 72 der Bundesverfassung, wonach die Grundlage für die Nationalratswahlen durch die Gesamtbevölkerung des Landes gebildet wird, und von keiner Seite ist bis jetzt die Unrichtigkeit dieses Systems nachgewiesen worden, zumal die Motionäre sind diesen Nachweis schuldig geblieben.

,,Aber auch von allgemeinen Gesichtspunkten aus müßte es sich eigentümlich ausnehmen, wenn im Zeitalter früher unerreichter Vollkommenheit der Verkehrsmittel in einem Lande, in welchem gewisse von der Natur bevorzugte Gegenden den Herbeizug von Fremden möglichst begünstigen, in dem Lande, welches sich der politisch freiesten Institutionen rühmt, die Vertretung im gesetzgebenden Rate nicht mehr nach Maßgabe der gesamten, sondern nur nach der eingebornen Bevölkerung bestellt werden wollte. Es ist für die kulturelle Bedeutung eines Landes
kein schlimmes Zeichen, wenn es den Zielpunkt einer Zuwanderung von außen bildet, die selbst wieder im Sinne der Kulturentwicklung wirkt, und diejenigen Kantone der Schweiz, welche bis jetzt die größte Zuwanderung Fremder aufzuweisen hatten, haben deshalb nicht

695

aufgehört, getreue Bundesglieder der Eidgenossenschaft zu sein.

Ihr Gedeihen mehrt den Gesamtwohlstand, ihr reges Geistesleben und ihre reiche Gewerbsthätigkeit tragen nicht am wenigsten zur Ehre des Schweizernamens im Auslande bei. Es wäre also weder gerecht noch weise, wollte man diese Kantone in ihrer Vertretung im gesetzgebenden Rate verkürzen.

,,Dazu kommt, daß die bei uns sich aufhaltenden Ausländer nicht nur indirekt durch ihre produktive Thätigkeit den Wohlstand des Landes mehren helfen, sondern daß sie mit einziger Ausnahme des Wehrdienstes mit den Schweizerbürgern dieselben Lasten tragen, die zur Erhaltung des Gemeinwesens notwendig sind. Auf diese Mitwirkung wird man nicht verzichten wollen. Darum ist es auch nicht richtig, die bei uns sich aufhaltenden Ausländer als politische non-valeur zu taxieren und sie bei Berechnung der Zahl der Volksabgeordneten im Rate außer acht zu lassen. Die Konsequenz ihres Vorschlages zu ziehen und den Ausländern bei uns keine Niederlassung mehr zu gewähren, würden die Motionäre wohl auch dann nicht wagen, wenn sie hierzu die Macht und die Möglichkeit hätten.

,,Man mag darauf hinweisen, daß vielleicht einmal der Augenblick kommen könnte, in welchem viele der hier sich aufhaltenden Ausländer für uns unbequem, für unser Land eine Gefahr werden.

Wir wollen diese Möglichkeit nicht in Abrede stellen ; aber derselben wird jedenfalls am allerwenigsten durch den Vorschlag der Motionäre entgegengearbeitet. Sie wird vielmehr nur dadurch beseitigt, daß wir den Prozeß der Assimilation fördern und begünstigen durch eine weitgehende Erleichterung der Erwerbung des Schweizerbürgerrechtes, soweit von einem solchen Bürgerrecht thatsächlich überhaupt gesprochen werden kann ,,Allerdings ist gemäß Art. 43, Absatz l, der Bundesverfassung jeder Kantonsbürger Schweizerbürger und stellt der Bund für die Ausländer Bedingungen auf, unter denen die Erteilung des Schweizerbürgerrechtes geschehen kann, allein die Erwerbung des Schweizerbürgerrechtes geschieht nur auf dem Wege der Erwerbung eines schweizerischen Kantons- oder Gemeindebürgerrechtes, und der Bund hindert die Kantone nicht, ihrerseits wieder beliebige Bedingungen aufzustellen, wenn nur die des Bundes erfüllt sind. Die bundesrätliche Bewilligung an und für sich selbst hilft also dem Bewerber nicht viel, wenn er nicht
eine Gemeinde findet, die bereit ist, ihn als Bürger Aufzunehmen oder wenn die kantonale Gesetzgebung die Erteilung des Landrechtes mit Schwierigkeiten und Bedingungen umgiebt, die nur schwer zu überwinden sind. Diese Verhältnisse

696 tragen ohne Zweifel zu einem Teil die Schuld daran, daß ein großer Teil der seit Jahren in unserem Lande sich aufhaltenden Ausländer auf den Erwerb des Bürgerrechtes verzichtet. Würden die Bedingungen der Aufnahme erleichtert, so würden auch die Bürgerrechtsbewerbungen sich mehren, und viele von jenen, die heute fremd sind in unserm Lande, zu Bürgern und gewiß auch in der Mehrzahl der Fälle zu guten Bürgern desselben werden.

,,Stellt man sich aber auf den Standpunkt, daß eine Abänderung des Systems für die Nationalratswahlen zum Bedürfnis geworden, so giebt es wiederum andere Wege, welche vor denjenigen der Motionäre den Vorzug verdienen. Da dürfte z. B. mit größerem Rechte die Frage aufgeworfen werden, ob nicht die Zahl der Stimmberechtigten statt der gesamten Wohnbevölkerung zur Grundlage zu nehmen sei. Dieses System hätte verschiedene Vorzüge.

Da die Ermittlung der Zahl der Stimmberechtigten nicht wie diejenige der Wohnbevölkerung nur je zu 8 oder 10 oder 12 Jahren, sondern vor jeder eidgenössischen Wahl oder Abstimmung stattfinden würde, so stände die Zahl der Abgeordneten stets im richtigen Verhältnis zu derjenigen der Stimmberechtigten und würden Mißverhältnisse, wie sie gegenwärtig existieren und wie sie durch möglichst lange Hinausschiebung der Volkszählung noch gemehrt werden, nicht mehr bestehen. Es würden sodann auch die Kantone im Interesse der Beibehaltung der bisherigen Repräsentantenzahl von selbst dazu kommen, für das Stimmrecht liberalere Prinzipien anzuwenden, als wie sie zur Zeit in einzelnen derselben noch Gültigkeit haben, oder es würde, was noch besser, der Bund veranlaßt werden, einheitliche Bestimmungen über das Stimmrecht aufzustellen, ein schweizerisches Stimmrechtsgesetz zu erlassen, wie ein solches ja längst gefordert ist."

Einen Teil der von Zürich vorgeführten Gedanken enger zusammenfassend, äußert sich G e n f folgendermaßen : ,,Wir halten dafür, daß die Gesetzgeber weise handelten, da sie die Gesamtbevölkerung und nicht die bloße schweizerbürgerliche Bevölkerung als Maßstab unserer nationalen Volksvertretung aufstellten. Wollte man in der Ordnung dieser Verhältnisse nur rein politische, nicht aber auch die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interessen berücksichtigen , dann würde die Gesamtheit unserer nationalen Thätigkeit nur in sehr unvollständiger
Weise vertreten sein. Man begeht ein Unrecht, wenn man, wissentlich oder nicht, übersieht, in welchem Maße auch die in unserem Lande niedergelassenen Ausländer an der Förderung unserer gemeinsamen Wohlfahrt beteiligt

697 sind und daß auch sie an den öffentlichen Lasten des Bundes, der Kantone und der Gemeinden mitzutragen haben.a

Es liegt uns ferne, Ihre eigene Würdigung dessen, was in den Antworten dee Kantonsregierungen enthalten ist, zu beeinflussen ; doch können wir nicht unterlassen, wenigstens in zwei bestimmten Richtungen unsere volle Übereinstimmung auszusprechen, mit Ansichten, die hier für die Rückweisung der Motion geltend gemacht werden.

Vorerst halten auch wir die''vorgeschlagene Neuordnung der Grundlagen der Nationalratswahlen als durchaus unzeitgemäß. Hätte doch ein solcher Zankapfel notwendig zur Folge, nicht nur die Thätigkeit der Bundesversammlung zu lahmen, sondern durch die späteren Agitationen für die Volks- und Ständeabstimmung mit der Gesamtheit der Stimmberechtigten sozusagen auch unsere ganze Bevölkerung in zwei Lager auseinander zu führen. Das ist ein so unfruchtbarer Gegenstand nicht wert.

Sie werden mit uns übereinstimmen, daß es gegenwärtig besser ist, eine Frage von so nebensächlicher Bedeutung liegen zu lassen, dafür unsere Arbeit und unsere Zeit lieber jenen großen Aufgaben zu widmen, die gerade jetzt dem schweizerischen Gesetzgeber vorliegen. Setzen wir uns nicht dem Vorwurfe aus, daß wir dem Volke, das Brot von uns erwartet, Steine darbieten, und daß wir uns mit Angelegenheiten beschäftigen, von denen für niemand etwas Erkleckliches zu erwarten ist.

Sodann hielten auch wir es als eine Unbilligkeit, für die Vertretung im Nationalrate nur rein politische Interessen -- im engen Sinne dieses Wortes -- berücksichtigen zu wollen und nicht anzuerkennen, daß auch die wirtschaftlichen und allgemein gesellschaftliche Interessen mit vollem Rechte eineVertretung beanspruchen dürfen.

Was liegt denn im Grunde daran, daß sich Industrie und Handel mehr in den Städten entwickeln als auf dem Lande; was liegt selbst daran, daß ein verhältnismäßig doch kleiner Teil der Hände, die in der Schweiz arbeiten, Hände von Ausländern sind?

Aber das darf man betonen, daß Industrie und Handel, gleichwie die Landwirtschaft und alle übrigen Zweige der wirtschaftlichen Thätigkeit nur durch gemeinsames Zusammenwirken unser nationales Vermögen schaffen und äuffnen; aller Arbeiten Erfolg, der in

698 unserem Lande erzielt wird, wenn auch von Ausländern, wird zum Bestandteil unserer schweizerischen, unserer nationalen Güter.

Von solchen Gedanken geleitet, können wir es denn auch nur als gerecht und billig ansehen und als einzig übereinstimmend mit dem freisinnigen Geiste unserer Bundesverfassung, daß die Vertretung im Nationalrate unsere ganze, somit auch unsere nichtschweizerische Bevölkerung berücksichtige, freilich un-ter der selbstverständlichen Voraussetzung, daß die Wahl jener Vertreter immer eine ausschließlich schweizerische und nationale Angelegenheit zu bleiben hat.

Wir schließen die bisherige getrennte Untersuchung der beiden Motionen durch die folgende gemeinsame Betrachtung derselben.

Durch die eine Motion ist die gegenwärtige gesetzliche Ordnung der Volkszählung, durch die andere die gegenwärtige verfassungsgemäße Ordnung unserer nationalen Volksvertretung in Frage gestellt worden. Niemand verkennt die große Bedeutung, die den beiden angefochtenen Einrichtungen in unserm Staatswesen zukommt. Für die Volksvertretung ist dies ohne weiteres klar ; aber auch für die Volkszählung, sobald man sich der mannigfaltigen Dienste erinnert, die sie in den verschiedensten Zweigen der öffentlichen Verwaltung, sowie für die allgemeine Kenntnis unseres Landes und seiner Bevölkerung zu leisten hat. Nun meinen wir : je bedeutender eine öffentliche Einrichtung ist, desto vorsichtiger sollte man sein, um kleiner oder vorübergehender Unebenheiten willen, die man zu bemerken glaubt, jene Einrichtung sofort in Frage zu stellen und derselben durch gar zu leichte Änderungen den Stempel der Unsicherheit aufzudrücken. Wichtige Einrichtungen ändert man wohl grundsätzlich und auf Dauer, aber nicht um Interessen willen, die zu häufig wechseln, sich ablösen und so fortwährend neue Änderungen hervorrufen müßten.

Diese allgemeine Betrachtung, sowie die Ergebnisse unserer Untersuchungen über die grundsätzliche Berechtigung und über die praktischen Folgen der Motionen Amsler und Hochstraßer-Fonjallaz führen uns zu dem Antrage: Es sei diesen beiden Motionen keine Folge zu geben.

699 Wir benutzen auch diesen Anlaß, Sie, Tit., unserer ausgezeichneten Hochachtung zu versichern.

B e r n , den 6. April 1898.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident: Ruffy.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Ringier.

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung, betreffend die nächste eidgenössische Volkszählung und ihre Anwendung auf die Nationalratswahlen. (Motionen Amsler und Hochstraßer-Fonjallaz.) (Vom 6. April 1898.)

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