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Bundesratsbeschluss über

den Rekurs des Paul Kennet & Konsorten in Courtetelle (Bern) betreffend Gemeindeabstimmung daselbst.

(Vom 6. Januar 1898.)

Der schweizerische Bundesrat hat über den Rekurs des Paul K e n n e t
In thatsächlicher Beziehung wird festgestellt:

I.

Am 4. Juli 1897 hatte die Gemeindeversammlung von Courtetelle darüber abzustimmen, ob die Stelle einer Lehrerin zur Bewerbung ausgeschrieben werden solle ; eine erste Abstimmung mußte annulliert werden, weil mehr Stimmzettel eingegangen als ausgeteilt worden waren. Bei der zweiten Abstimmung wurde mit 76 Stimmen gegen 68 beschlossen, die Stelle nicht auszuschreiben..

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n.

J. Comte, F. Membres et J. Zurflüh rekurrierten am 6. Juli 1897 gegen dieses Abstimmungsergebnis an den Regierungsstatthalter in Delsberg. Diese Behörde kassierte mit Beschluß vom 4. August 1897 die Gremeindeabstimmung vom 4. Juli; es hatten, wie das Wahlbureau selbst zugestand, 8 Bürger unberechtigterweise an der Abstimmung teilgenommen ; durch Abzug dieser acht Stimmen würde zwar das Abstimmungsergebnis nicht verändert; dagegen ist eine wesentliche, die Nichtigkeit der Wahlverhandlung bedingende Unregelmäßigkeit in dem Umstand zu erblicken, daß an sämtliche, im Abstimmungslokal anwesende Personen Stimmzettel ausgeteilt worden waren, ohne jede Kontrolle über die Stimmberechtigung dieser Personen.

III.

Gegen diese Entscheidung legten Paul Kennet & Konsorten beim Regierungsrate des Kantons Bern Beschwerde ein und verlangten, dass die Abstimmung vom 4. Juli 1897 gültig erklärt werde ; sie bringen eine mit 84 Unterschriften versehene Bescheinigung bei, laut welcher die Abstimmung in aller Ruhe und vollkommen ordnungsgemäß von statten gegangen war.

Mit Beschluß vom 18. September 1897 erkannte der bernische Regierungsrat, die Beschwerdeführer seien zur Anfechtung des Entscheides des Regierungsstatthalters nicht legitimiert, da sie vor dieser Instanz nicht Parteien gewesen seien ; er trat deshalb auf den Rekurs nicht ein.

IV.

Paul Hennet & Konsorten rekurrieren, gestützt auf Art. 5 der Bundesverfassung, gegen diesen Beschluß niit Eingabe vom 27. September 1897 an den Bundesrat.

Die willkürliche Vernichtung einer Abstimmung seitens einer kantonalen Behörde, wird von den Rekurrenten ausgeführt, involviert eine Verletzung der verfassungsmäßigen Rechte der Bürger, welche an der Abstimmung teilgenommen haben, wie der Bundesrat selbst schon erkannt hat, und die Wahrung dieser Rechte steht jedem Bürger zu. Vor dem Regierungsstatthalter war die Mehrheit der Gemeindeversammlung vom 4. Juli nicht vertreten, der Regierungsstatthalter faßte den Entscheid, ohne sie gehört zu haben ; es käme einer Rechtsverweigerung gleich, dieser Mehrheit das Recht abzuerkennen, ihre Gründe für die Gültigkeit der Ab-

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Stimmung bei der hohem kantonalen Instanz vorzubringen. Die Entscheidung des Regierungsstatthalters von Delsberg ist übrigens auch materiell unrichtig, da zwei Bürger, deren Stimmabgabe kassiert wurde, durchaus stimmberechtigt waren.

V.

Die Regierung des Kantons Bern läßt sich über den Rekurs durch Zuschriften vom 22. Oktober, 27. November und 22. Dezember 1897 wie folgt vernehmen: Die das Verwaltungsbeschwerdeverfahren regelnden §§ 56 bis 59 des bernischen Gesetzes über das Gemeindewesen, vom 6. Dezember 1852, enthalten keine Vorschriften darüber, wer zur Weiterziehung der Entscheidungen des Regierungsstatthalters an den Regierungsrat kompetent sei; nach Analogie der civilprozessualischen Grundsätze wird gemäß bisheriger Praxis angenommen, dieses Rekursrecht stehe nur den im Administrativbeschwerdeverfahren aufgetretenen Parteien zu. Die jetzigen Rekurrenten waren aber weder Kläger noch Beklagte.

Aus den Akten ergiebt sich ferner, daß die Entscheidung des' Regierungsstatthalters von Delsberg wohl begründet war. Bei der Gemeindeabstimmung von Courtetelle wird übungsgemäß folgendes Verfahren beobachtet: das Wahlbureau, unterstützt durch die Stimmenzähler, kontrolliert an Hand des Stimmregisters, daß alle Anwesenden stimmberechtigt sind, und läßt durch den oder die Stimmenzähler die Stimmzettel austeilen und einsammeln. Gewöhnlich verrichtet der Gemeindeweibel die Funktionen des Stimmenzählers, weil er alle Stimmberechtigten kennt. Bei der Abstimmung vom 4. Juli 1897 war nun der Gemeindeweibel abwesend, und es wurden die Funktionen des Stimmenzählers durch unerfahrene Bürger ausgeübt; so kam es, daß Personen unberechtigterweise stimmen konnten.

B.

In rechtlicher Beziehung fällt in Betracht:

l.

Der Bundesrat hat zu verschiedenen Malen anerkannt, daß alle Bürger, die an einer ordnungsgemäß vorgenommenen Wahl oder Abstimmung teilgenommen haben, ein Recht darauf besitzen, daß das Resultat der Wahlverhandlung nicht willkürlich aufgehoben werde ; denn in einer solchen unbegründeten Aufhebung

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läge eine Verletzung des verfassungsmäßigen Stimmrechts (vgl.

Bundesblatt 1884, II, Seite 760; 1891, V, Seite 548; 1892, I, Seite 425; -- Salis, Bundesrecht, II, Nr. 772 und 829).

Das Recht, gegen eine Entscheidung Beschwerde zu führen, durch die eine Wahl oder Abstimmung kassiert wird, muß daher allen Bürgern zustehen, die an der W ahi Verhandlung teilgenommen haben, und es kann ihnen von der höhern Instanz nicht die Legitimation zur Besch\verdefiihrung darum abgesprochen werden, weil sie · bei der fraglichen Entscheidung nicht Partei gewesen seien ; denn erst durch diese Entscheidung sind sie möglicherweise in ihrem Rechte verletzt worden. Die Aberkennung dieses Beschwerderechtes käme einer Rechtsverweigerung gleich, denn sie würde diesen Bürgern die Möglichkeit nehmen, bei einer Entscheidung, die auch ihre Rechte zum Gegenstand hat, gehört zu werden.

Der Bundesrat hat darum die Legitimation solcher Bürger zur Weiterziehung kantonaler Entscheidungen an sein Forum, oder bundesrätlicher Entscheidungen an die Bundesversammlung, stets anerkannt (Bundesblatt 1897, IH, Seite 688).

Diese bundesrechtlichen Grundsätze sind auch von den kantonalen Behörden bei Beurteilung von Wahlrechtsbeschwerden zu beachten, und es ist der von der Berner Regierung als kantonales Recht aufgestellte Satz, daß, ,,zur Ergreifung des Rekurses gegen einen erstinstanzlichen Administrativentscheid nur die Parteien selbst legitimiert seien, während andern Gemeindegenossen ein selbständiges Rekursrecht nicht zustehe, auch wenn sie an der Aufrechterhaltung des angefochtenen Gemeindebeschlusses ein persönliches Interesse hätten"1, nicht anwendbar.

IL Da sich die Berner Regierung in ihrer Beantwortung des Rekurses nicht damit begnügt hat, die Legitimation der Rekurrenten zur Beschwerdeführung zu bestreiten, sondern sich auch über die materielle Seite der Frage ausgesprochen hat, so liegt keine Veranlassung vor, die Sache zur materiellen Behandlung an diese Behörde zurückzuweisen.

Die Behauptung der Rekurrenten, daß von den 8 Bürgern, die als nicht stimmberechtigt erklärt worden sind, zwei an der Abstimmung nicht teilgenommen haben, würde, wenn sie richtig wäre, die Entscheidung des Regierungsstatthalters von Delsberg nicht umzustoßen vermögen ; denn diese Entscheidung beruht

49 hauptsächlich auf der Erwägung, daß die Stimmzettel in einer ordnungswidrigen, jede Kontrolle ausschließenden Weise verteilt worden seien. Wenn sich der Regierungsstatthalter auf diese, von den Vertretern des Wahlbureaus zugestandene Unregelmäßigkeit stützt, um die Abstimmung zu kassieren, so kann hierin weder eine Verletzung des Bundesrechts, noch des kantonalen Verfassungsrechts erblickt werden.

Demnach wird erkannt: Der Rekurs wird im Sinne der Erwägungen als unbegründet abgewiesen.

B e r n , den 6. Januar

1898.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident:

Kuffy.

Der I. Vizekanzler: Schatzmaim.

Bandesblatt. 50. Jahrg. Bd. I.

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Bundesratsbeschluss über den Rekurs des Paul Kennet & Konsorten in Courtetelle (Bern) betreffend Gemeindeabstimmung daselbst. (Vom 6. Januar 1898.)

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