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885 Bericht des

Bundesrates an die Bundesversammlung über den Rekurs der Frau Honorine Clerc, französische Staatsangehörige, in Bardonnex, gegen den Entscheid des Bundesrates vom 11. Januar 1918 betreffend ihre Ausweisung aus dem Kanton Genf.

(Vom 10. Juni 1918.)

Mit Entscheid vom 11. Januar 1918, welcher den Parteien den 16. gl. Mts. zugestellt wurde, haben wir den Rekurs der Frau Honorine Clerc, französische Staatsangehörige, in Bardonnex, gegen die Ausweisungsverfügungen des Justiz- und Polizeidepartements und des Staatsrates des Kantons Genf abgewiesen. Die Motive, die zu der Abweisung des Rekurses geführt haben, sind im beiliegenden Entscheid, auf welchen wir uns zu verweisen erlauben, niedergelegt.

Gestützt auf Art. 189 in fine und 192 0. G. rekurriert Frau Honorine Clerc an die Bundesversammlung und stellt den Antrag, Sie möchten sowohl den Entscheid des Bundesrates vom 11. Januar 1918 als denjenigen des genferischen Staatsrates vom 29. Mai 1917 aufheben unter dem Vorbehalte, dass die Rekurrentin nicht mehr in der Gemeinde Bardonnex Niederlassung nehme. Die Rekurrentin führt im wesentlichen aus, dass ihr nicht schlechtes Betragen oder Störung der öffentlichen Ordnung vorgeworfen werden könne; die Ausweisung auf Grund des Art. 19 des genferischen Gesetzes vom 14. Oktober 1905 über die Erteilung der Aufenthalts- und Niederlassungsbewilligungen und die Fremdenpolizei rechtfertige aich nicht. Die gegen die Rekurrentin getroffenen Massnahmen könnten nicht damit begründet werden,, dass mehr oder weniger einflussreiche Persönlichkeiten der Gemeinde Bardonnex versuchten, ihrer persönlichen Abneigung gegen die Rekurrentin Ausdruck zu verleihen und die Bevölkerung gegen sie aufzuwiegeln. Die Unterzeichner der Petition, in welcher die Ausweisung der Rekurrentin verlangt werde, hätten nur unter dem Druck dieser Persönlichkeiten gehandelt. Selbst angenommen, aber nicht zugegeben, die Anwesenheit der Rekurrentin in Bardonnex wäre der öffentlichen Ordnung zuwider,

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könne es sich nur um die öffentliche Ordnung von Bardonnex handeln. Da sich aber Frau Clerc verpflichte, die Gemeinde Bardonnex zu verlassen, obschon sie dort Vermögenswerte besitze, bestehe nach ihrer Auffassung kein Grund, den Beschluss, durch welchen sie aus dem ganzen Kantonsgebiet ausgewiesen werde, aufrechtzuerhalten.

Es scheint beinahe überflüssig zu sein, zu konstatieren, dass -- entgegen der Ansicht des Justiz- und Polizeidepartements des Kantons Genf -- die Bundesversammlung zuständig ist, den Rekurs der Frau Clerc zu entscheiden. Es handelt sich in der Tat um einen Anstand, herrührend aus den Bestimmungen eines Niederlassungsvertrages. Die Zuständigkeit der eidgenössischen Räte ergibt sich aus Art. 189 in fine und 192 des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege.

Frau Clerc hat ihren Rekurs innert nützlicher Frist eingereicht.

Da die Rekurrentin sich darauf beschränkt, in ihrer Eingabe im allgemeinen die im Rekurs an den Bundesrat entwickelten Argumente zu wiederholen und diese Argumente in unserm Entscheid Tom 11. Januar 1918 geprüft worden sind, erlauben wir uns, auf diesen Entscheid zu verweisen. Gegenüber der Erklärung der Frau Clerc, nicht mehr in Bardonnex Niederlassung nehmen zu wollen, und der Einwendung, dass einzig die öffentliche Ordnung dieser Ortschaft in Frage komme, ist zu bemerken, dass dem Kanton Genf nicht zugemutet werden darf, die Anwesenheit der Rekurrentin in einer andern Gemeinde als Bardonnex zu dulden.

Die Ausweisung auf Grund des genferischen Gesetzes vom 14. Oktober 1905 ist eine Massnahme, die sich in ihren Wirkungen auf das ganze Kantonsgebiet erstreckt. Nun sind nach konstanter Praxis die Bestimmungen dieses Gesetzes nicht im Widerspruch mit denjenigen des Niederlassungsvertrages zwischen der Schweiz und Frankreich vom 23. Februar 1882.

Unter diesen Umständen beehren wir uns, Ihnen die Abweisung des Rekurses der Frau Clerc zu beantragen.

Genehmigen Sie, Tit., die Versicherung unserer vorzüglichen Hochachtung.

B e r n , den 10. Juni 1918.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident: Calonder.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Schatzmann.

431 Beilage.

Bundesratsbeschluss über

die Beschwerde der Frau Honorine Clerc, französische Staatsangehörige, in Charrot, Gemeinde Bardonnex, wegen Ausweisung aus dem Kanton Genf.

Der schweizerische Bundes rat

hat über die Beschwerde der Frau Honorine Clerc, geb. Grillet, französische Staatsangehörige, in Charrot, Gemeinde Bardonnex, gegen ihre Ausweisung aus dem Kanton Genf, auf den Antrag seines Justiz- und Polizeidepartements, folgenden Beschluss gefasst:

A.

In tatsächlicher Beziehung wird festgestellt: I.

Mit Beschwerdeschrift, datiert Genf den 3. Juli 1917, reichte Frau Honorine Clerc, geb. Grillet, französische Staatsangehörige, gleichzeitig dem Bundesrat und dem Bundesgericht einen sta>tsrechtlichen Rekurs gegen den Beschluss des Staatsrates des Kantons Genf vom 29. Mai 1917 ein, laut welchem diese Behörde die vom kantonalen Justiz- und Polizeidepartement erlassenen Ausweisungsverfügungen vom 20. und 27. Februar 1917 bestätigte.

Frau Clerc macht im wesentlichen folgendes geltend : Sie sei seit 1893 in Charrot, Gemeinde Bardonnex, niedergelassen; anfänglich sei sie als Magd im Dienste des Adjunkten Côte gestanden, bis sie sich im Jahre 1895 mit dem französischen Staatsangehörigen Jean Louis Clerc, Landwirt in Charrot, verheiratet habe. Dank beharrlicher Arbeit habe das gemeinsame Vermögen der Eheleute Clerc im Jahre 1912 eine Höhe von ungefähr Fr. 25,000 erreicht, was Grund zu Neid gegeben habe, speziell

432 in den Kreisen des Adjunkten Côte. Unwillen habe Frau Clerc überdies dadurch erweckt, dass sie die Messe nicht besuchte.

Einige Szenen, die auf diese Umstände zurückzuführen seien, hätten ihr Nachspiel vor dem Polizeigericht gehabt, das jedoch die Unbegründetheit der gegen Frau Clerc erhobenen Anschuldigungen anerkannt habe. Im Jahre 1914 sei im Häuschen der Beschwerdeführerin eine Feuersbrunst ausgebrochen, worauf es die Boshaftigkeit der Leute dazu gebracht habe, dass Frau Clerc der vorsätzlichen Brandstiftung beschuldigt worden sei ; da aber die Gemeindebehörden und -Einwohner bei der Strafuntersuchung keine bestimmten, belastenden Momente vorbringen konnten, habe der Staatsanwalt darauf verzichten müssen, die Angelegenheit vor den Richter zu ziehen. Die Gemeinde Bardonnex habe es alsdann erreicht, dass das kantonale Justiz- und Polizeidepartement unterm 4. September 1914 eine Ausweisungsverfügung gegen Frau Clerc traf. Auf Beschwerde hin habe der Staatsrat die Ausweisungsverfügung, die er zu einer Zeit bestätigt habe, da das Strafverfahren wegen vorsätzlicher Brandstiftung noch nicht fallen gelassen worden sei, am 24. November 1915 aufgehoben.

In der Zwischenzeit habe der Gemeinderat von Bardonnex den Jean Louis Clerc veranlasst, die Ehescheidung einzuleiten ; dieser habe es aber vorgezogen, das eheliche Leben wieder aufzunehmen, nachdem die Ausweisungsverfügung zurückgezogen worden sei. Anfangs 1917 habe der Maire von Bardonnex das kantonale Justiz- und Polizeidepartement ersucht, Frau Clerc aus dem Kanton auszuweisen oder ihr den Aufenthalt in der Gemeinde zu verweigern. Ein von diesem Departement einverlangter Polizeirapport habe indessen dargetan, dass seit dem Beschluss des Staatsrates vom 24. November 1915 keinerlei Klagen gegen die Beschwerdeführerin erhoben worden seien. Da aus diesem Grunde auf das Begehren des Maire von Bardonnex nicht eingetreten werden konnte, sei eine vom 15. Februar 1917 datierte Petition in Zirkulation gesetzt worden, und der Gemeindebehörde sei es dank ihrem Einflüsse gelungen, sich Unterschriften zu verschaffen. Am 16. gleichen Monats habe der Gemeinderat an das kantonale Justiz- und Polizeidepartement das Gesuch auf Ausweisung der Beschwerdeführerin wegen Verstoss gegen die guten Sitten, wegen Verleumdung und Brandstiftung (^outrage à la moral, diffamation,
incendie") gerichtet, dem alsdann das Departement, auf Verlangen des Staatsrates, an welchen die Gegner der Beschwerdeführerin direkt gelangt seien, durch seine Verfügungen vom 20. und 27. Februar 1917 entsprochen habe.

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Auf die Beschwerde hin, die Frau Clerc dagegen unterm 3. April 1917 dem Staatsrat eingereicht habe, sei von der Rekurskommission eine Untersuchung angeordnet worden, welche jedoch nur ein einziges ungünstiges Zeugnis zutage gefördert habe, nämlich dasjenige eines gewissen Kessler, mit welchem die Beschwerdeführerin Meinungsverschiedenheiten gehabt habe, um deren Willen in der Folge ein Verfahren vor dem Polizeigericht eingeleitet und durchgeführt worden sei. Der Maire von Bardonnex, der in dieser Untersuchung zugleich als Zeuge und Partei aufgetreten sei, habe der Einvernahme sämtlicher Zeugen beigewohnt.

Trotzdem bei diesem Anlasse etwas Neues nicht vorgebracht werden konnte, habe sich der Staatsrat vor den Bitten des persönlichen Feindes der Beschwerdeführerin, dem Maire Mabut, der gleichzeitig der Altersvorsitzende des Grossen Rates sei, gebeugt und den Rekurs abgewiesen. Nichtsdestoweniger habe die Beschwerdeführerin am 4. Juni, also in einem Zeitpunkte n a c h der Ausweisungsverfügung des Staatsrates, die Bewilligung erhalten, sich für die Dauer eines Monats im Kanton, jedoch mit Ausschluss der Gemeinde Bardonnex, aufzuhalten. Diese Bewilligung sei am 3. Juli für einen Monat erneuert worden.

Durch den Staatsrat aus dem Kanton ausgewiesen, sei die Beschwerdeführerin durch das Departement, dem die Vollziehung des bezüglichen Beschlusses obgelegen habe, ermächtigt worden, sich im Kanton aufzuhalten!

Der Beschluss des Staatsrates verletze die Art. 4 und 45, Absatz 2 und 3 der Bundesverfassung, welche gemäss dem schweizerisch - französischen Niederlassungsvertrag vom 23. Februar 1882 auf die Beschwerdeführerin ebenfalls anwendbar seien. Der Staatsrat könne sich auf keinen Fall auf die Klagen stützen, die er in seinem Beschluss vom 24. November 1915 für unbegründet erklärt habe. Die Ungleichheit in der Behandlung liege klar zutage. Nach den Aussagen eines unbeteiligten Zeugen tendierten die Machenschaften der Gegner der Frau Clerc dahin, diese aus ihrem Besitze zu vertreiben. Der Gemeinderat von Bardonnex und der Staatsrat hätten sich nicht gescheut, die Rekurrentin als würdig zu betrachten, sich auf Genfer Boden, mit Ausnahme der Gemeinde Bardonnex, niederzulassen, was einer Art Gemeindeverbannung gleichkomme. Eine derartige Massnahme verletze den 1. Absatz des Art. 45 der Bundesverfassung,
den die Beschwerdeführerin mit Rücksicht auf den schweizerisch-französischen Niederlassungsvertrag ebenfalls anrufe.

Frau Clerc stellt das Begehren, es sei der Beschluss des Staatsrates des Kantous Genf vom 29. Mai 1917, durch welchen

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die von seinem Justiz- und Polizeidepartement unterm 20. und 27. Februar 1917 getroffenen Ausweisungsverfügungen bestätigt worden seien, aufzuheben, unter Kostenfolge für die im Verfahren mit den Gemeindebehörden erwachsenen Auslagen, sowie für diejenigen dieses Rekurses.

Dem Dossier werden beigegeben die Akten der Frau Clerc in der Angelegenheit betreffend die Brandstiftung, nebst einigen andern Aktenstücken.

II.

Da die Beschwerdeführerin mit der gleichen Rekursbeschwerde sowohl an den Bundesrat als an das Bundesgericht gelangt war, fand gemäss Art. 194 0. G. ein Meinungsaustausch zwischen diesen Behörden über die Kompetenzfrage statt. Am 17. Juli 1917 teilte die staatsrechtliche Abteilung des Bundesgerichts dem Bundesrate unter Berufung auf den erwähnten Artikel mit, dass, da die Anstände aus Niederlassungsverträgen laut Art. 189 0. G. in die Kompetenz des ßundesrates und der Bundesversammlung fallen, sich das Bundesgericht in der vorliegenden Frage als unzuständig betrachte. Dies wurde durch einen unterm 24. September 1917 gefassten Entscheid der staatsrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts bestätigt.

III.

In seiner vom 19. Oktober 1917 datierten Antwort auf die Rekursbesehwerde bemerkt der Staatsrat des Kantons Genf, dass er sich nach gründlicher Prüfung der Beschwerde, welche Frau Clerc an den Bundesrat gerichtet habe, genötigt sehe, auf seinem Beschlüsse zu beharren. Im wesentlichen führt der Staatsrat folgendes aus : aus den eingeholten Berichten ergebe sich,- dass das Betragen der Frau Clerc in der Gemeinde Bardonnex immer und immer wieder Anlass zu Zwistigkeiten gebe und dass die Gemeindebehörden kein anderes Mittel hätten, um die Ordnung in der Gemeinde zu wahren, als mit Nachdruck die Ausweisung der Genannten zu verlangen. Dieser Standpunkt sei sowohl vom Justizund Polizeidepartement als vom Stautsrat, welch letzterem der Fall bereits im Jahre 1914 vorgelegen habe, vertreten worden. Auf das Versprechen der Frau Clerc hin, sich nicht mehr in der Gemeinde Bardonnex aufzuhalten, hätten die Behörden sich damit einverstanden erklärt, sie nicht schlechtweg aus dem Kanton auszuweisen ; gegenüber der Beschwerdeführerin sei daher äusserste Toleranz beobachtet worden. Die gegen Frau Clerc verfügten Massnahmen seien erst auf eine geführte genaue Untersuchung

435 hin getroffen worden, in deren Verlauf der Staatsrat Zeugen einvernommen habe, um sich Klarheit zu verschaffen. Eine Abschrift des Protokolls dieser Zeugeneinvernahme sei dem Dossier beigefügt. Um die Sache richtig zu beurteilen, müsse mau sich in den engen Kreis der Gemeinde versetzen. Tatsachen, über die man in einem grössern, belebtem Kreise nötigenfalls weniger empfindlich sein könne (heftige Sprache, Grobheiten, Mangel an Anstand), wirken hier weit tiefer. Es müsse auf die wiederholten, der Frau Clerc zur Last gelegton Tatsachen, auf das fortgesetzte Lächeiiichmachen und Verspotten der Gemeindebehörden, auf die Klagen, zu denen sie die Gemeindeeinwohner veranlasst habe, und auf das unanständige Betragen der Frau Clerc hingewiesen werden.

Die Ortspolizeibehörden seien in der Ausübung ihrer Aufgaben zu unterstützen, sobald sie gegenüber Fremden energisch auftreten, deren Aufenthalt im Kanton unter den gegenwärtigen Umständen nur gestattet werden könne, wenn sie unsere Gesetze beobachten.

Der Staatsrat beantragt Abweisung der Beschwerde.

Unterm 12. Dezember 1917 hat das kantonale Justiz- und Poh'zeidepartement dem Dossier seine eigenen Akten betreffend die Ausweisung, sowie diejenigen des genferischen Staatsanwalts in Sachen der Brandstiftung einverleibt.

B. In rechtlicher Beziehung fällt in Betracht:

I.

Niederlassung und Aufenthalt der Franzosen in der Schweiz sind im Niederlassungsvertrag vom 23. Februar 1882 geregelt.

Der Art. l dieses Vertrages sagt u. a. : ,,Die Franzosen sind in jedem Kantone der Eidgenossenschaft. in Bezug auf ihre Personen und ihr Eigentum auf dem nämlichen Fusse und auf die gleiche Weise aufzunehmen und zu behandeln, wie es die Angehörigen der andern Kantone sind oder noch werden sollten. Sie können daher in der Schweiz ab- und zugehen und sich daselbst zeitweilig aufhalten, wenn sie den Gesetzen und Polizeiverordnungen nachleben."

Wie der Bundesrat zu wiederholten Malen anerkannt hat, steht der Art. 19 des genferischen Gesetzes vom 14. Oktober 1905 über die Niederlassungs- und Aufenthaltsbewilligungen, sowie die Fremdenpolizei, gestützt auf welche Bestimmung die Ausweisung der Frau Clerc erfolgt ist, nicht im Widerspruch mit dem schweizerisch-französischen Niederlassungsvertrag.

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n.

Nachdem dies festgestellt ist, hat der Bundesrat zu prüfen, ob der Staatsrat des Kantons Genf die erwähnte Bestimmung des genferischen Gesetzes vom 14. Oktober 1905 im vorliegenden Falle willkürlich angewendet habe.

Aus Aktenstücken, die dem Dossier einverleibt wurden, geht hervor, dass Frau Clerc in den Jahren 1897 bis 1908 durch den Gemeinderat von Bardonnex und durch das Polizeigericht von Genf wegen Beschimpfung und Verleumdung zu drei Bussen von Fr. 50, 60 und 10 verurteilt worden ist, und dass die Genannte vor der Ausweisungsverfügung vom Jahre 1914 durch ihr unanständiges Betragen öffentlichen Skandal erregt hat. Diese Tatsachen veranlassten den Staatsrat zu der am 10. November 1914 erfolgten Ausweisung der Frau Clerc. Aber sie hielten das kantonale Justiz- und Polizeidepartement und auch den Staatsrat nicht davon ab, der Beschwerdeführerin in einem Zeitpunkt, wo die Ausweisungsverfügung noch zu Recht bestand, obschon sie nicht vollzogen wurde, die Bewilligung zu erteilen, in Genf Wein o und Liqueurs über die Gasse zu verkaufen (25. Oktober 1915) und in der dortigen Stadt eine Salzverkaufsstelle zu halten (2. November 1915). Dies trotzdem die Bewilligung zum Verkauf von Wein und Liqueurs über die Gasse dem kantonalen Gesetz vom 12. März 1892 unterstellt ist, welches hierfür die Erfordernisse aufstellt, dass das Vorleben und der Leumund des Gesuchstellers genügende Garantien bieten ! Mit Datum vom 24. November 1915 machte der Staatsrat diesem sonderbaren Zustande ein Ende, indem er seinen Ausweisungsbeschluss aufhob, immerhin unter der Bedingung, dass Frau Clerc nicht in der Gemeinde Bardonnex wohne. Im Laufe des Winters 1916/17 kehrte die Beschwerdeführerin nach Bardonnex zurück. Dass ihr in dieser Periode neue Skandale zur Last zu legen sind, geht aus den Akten nicht hervor.

Der Bericht des Polizisten Duvoisin bestätigt sogar, dass neue Skandale nicht stattgefunden haben. Und das Protokoll über die Zeugeneinvernahme vor der Rekurskommission, das sowohl von der Beschwerdeführerin als vom Staatsrat angerufen wird, widerspricht dem erwähnten Polizeirapport nicht. Aber nichtsdestoweniger wurde im Dörfchen Charrot eine Petition in Umlauf gesetzt und vom Gemeinderat von Bardonnex auf die kantonale Behörde ein Druck ausgeübt, bis letztere eine neue Ausweisungsverfügung erliess, welche alsdann
vom Staatsrat in seinem Beschluss vom 29. Mai 1917 bestätigt wurde.

Man kann sich fragen, wie der Staatsrat dazu gekommen ist, die Ausweisungsverfügung von 1917 auf Tatsachen zu stützen,

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die er selbst im Jahr 1915 zur Begründung der Ausweisung als nicht zureichend erachtete. Dieser Wechsel in der Auflassung der kantonalen Behörde erscheint jedenfalls sonderbar, genügt aber nicht zur Gutheissung des vorerwähnten Rekurses. Bin anderer Punkt, über den diskutiert werden könnte, betrifft die Frage, welche Bedeutung den Verurteilungen der Frau Clerc zukomme. Diese haben allerdings verhältnismässig leichten Charakter und haben vor längerer Zeit stattgefunden. Sie lassen aber doch erkennen, dass der Rekurrentin der erforderliche Respekt vor der öffentlichen Ordnung abgeht.

Der Bundesrat hat übrigens nicht zu entscheiden, ob die Ausweisung an sich gerechtfertigt sei, sondern er muss sich darauf beschränken, zu untersuchen, ob der Staatsrat des Kantons Genf durch seinen am 29. Mai 1917 gefasstén Beschluss das genferische Gesetz vom 14. Oktober 1905 verletzt habe. Hinsichtlich der Voraussetzungen der Ausweisung bestimmt Art. 19 dieses Gesetzes, die Ausweisung könne unter anderm erfolgen, wenn das Verhalten des Fremden eine solche Massregel rechtfertige oder wenn seine Gegenwart der öffentlichen Ordnung zuwider ' sei.. Eine solche Bestimmung .bietet der Auslegung offensichtlich weiten Spielraum. Mit Rücksicht auf diese Elastizität in der Interpretation kann man den Art. 19 auf den Fall der Frau Clerc anwenden; eine willkürliche Handhabung des genferischen Gesetzes liegt somit nicht vor.

Demgemäss wird erkannt: Die Beschwerde wird abgewiesen.

B e r n , den 11. Januar

1918.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates,, Der Bundespräsident: Oalonder.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Schatzmann.

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Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über den Rekurs der Frau Honorine Clerc, französische Staatsangehörige, in Bardonnex, gegen den Entscheid des Bundesrates vom 11. Januar 1918 betreffend ihre Ausweisung aus dem Kanton Genf. (Vom 10. Ju...

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