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Zu 5282

Ergänzungsbotschaft des

Bundesrates an die Bundesversammlung zum Gesetzesentwurf über die Erleichterung der Stimmabgabe in eidgenössischen Angelegenheiten (Vom 28. Mai 1950)

Herr Präsident!

Hochgeehrte Herren!

Bei der Beratung der Gesetzesvorlage über die Erleichterung der Stimmabgabe in eidgenössischen Angelegenheiten hat der Nationalrat am 19. Juni 1948 auf Antrag seiner Kommission in Artikel 15 eine Bestimmung aufgenommen, wonach dem Bundesgesetz vom 19. Juli 1872 über die eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen ein neuer Artikel 3Ws eingefügt wird: «Übt ein Stimmfähiger an seinem Aufenthaltsort eine saisonbedingte Tätigkeit aus, so erwirbt er daselbst politischen Wohnsitz in eidgenössischen Angelegenheiten, sofern er nicht an einem andern Orte schon einen solchen hat.» Der Ständerat hat am 14. Dezember 1949 diese Bestimmung gestrichen in der Meinung, sie solle nicht in die Vorlage über die Stimmrechtserleichterungen aufgenommen werden, sondern sie sei separat zu behandeln. Er hat daher gleichzeitig eine Motion erheblich erklärt, die den Bundesrat beauftragen will, «eine besondere Botschaft mit Antrag zu unterbreiten über die Frage des politischen Wohnsitzes der Stimmberechtigten, die keinen anderen Wohnsitz haben.» Der Nationalrat hat zur Motion noch nicht Stellung genommen, und er hat die Beratung der Differenzen zur Gesetzes vorläge beim Artikel 15 unterbrochen, um einen Bericht des Bundesrates hierüber abzuwarten. Der Bundesrat unterbreitet Ihnen nun eine solche Ergänzungsbotschaft, vor allem, weil sich im Laufe der parlamentarischen Behandlung gezeigt hat, dass vielfach über den erwähnten Artikel 3Ms Missverständnisse walten.

Die in Artikel 4 bis 10 vorgesehene Eegelung der Stimmabgabe der vom Wohnsitz Abwesenden gibt einem Stimmfähigen, der infolge Ortsabwesenheit verhindert ist, zur Urne seines politischen Wohnsitzes zu gehen, die Möglichkeit, seinen Stimmzettel am Anwesenheitsort auszufüllen und entweder durch die Post (nach dem Beschluss des Nationalrates) oder durch Vermittlung einer

1321 Stelle der Anwesenheitsgerneinde (nach dem Beschluss des Ständerates) an die zustandige Zählstelle des Wohnsitzkantons weiterzuleiten. Dieses Verfahren kann naturgemäss nur denjenigen Stimmfähigen zugute kommen, die einen durch Eintrag im Stimmregister festgestellten politischen Wohnsitz haben.

Es gibt jedoch auch Stimmfähige, die nirgends im Stimmregister eingetragen sind und die deshalb ihr Stimmrecht nicht ausüben können. Es handelt sich in der Hauptsache um Ledige, die eine saisonbedingte Tätigkeit ausüben. In dieser Lage befinden sich insbesondere in der Hôtellerie viele Arbeitnehmer, die infolge ihres Berufes jeweilen nach kurzer Zeit ihren Arbeitsort wechseln. In gleicher Lage befinden sich Saisonangestellte und Saisonarbeiter anderer Berufszweige (z. B. Baugewerbe). Bei diesen Stimmfähigen, die noch keinen durch Eintrag ins Stimmregister festgestellten politischen Wohnsitz haben, ist das zu lösende Problem ein anderes; es ist nämlich dafür zu sorgen, dass sie einen anerkannten politischen Wohnsitz erhalten können.

1. Bei eidgenössischen Abstimmungen (Wahlen inbegriffen) kann nach Artikel 43, Absatz 2, BV jeder Schweizerbürger an seinem Wohnsitz Anteil nehmen, nachdem er sich über seine Stimmberechtigung gehörig ausgewiesen hat. Diese Verfassungsvorschrift bestimmt, dass das Stimmrecht in eidgenössischen Sachen ausschliesslich am Wohnsitz auszuüben ist (BGE 38, I, S. 472, 49, I, S. 429, 53, I, S. 278): die Stimmberechtigung in eidgenössischen Angelegenheiten ist also am Wohnsitz lokalisiert. Unter Wohnsitz ist hier wie auch im Bundesgesetz vom 19. Juli 1872 der politische Wohnsitz zu verstehen.

Artikel 3 dieses Gesetzes schreibt vor, dass das Stimmrecht von jedem Schweizerbürger da ausgeübt wird, wo er als Ortsbürger oder als Niedergelassener oder Aufenthalter wohnt. Formelle Voraussetzung für die Beteiligung an einer eidgenössischen Abstimmung ist die Eintragung im Stimmregister. Ins Stimmregister eines Ortes werden nur die Stimmfähigen eingetragen, die hier ihren politischen Wohnsitz haben (Art. 5 des BG von 1872).

Der Begriff des politischen Wohnsitzes gehört dem Bundesrecht an. Er ist von den polizeilichen Begriffen «Niederlassung» und «Aufenthalt» auseinanderzuhalten. Niederlassung hat, wer die polizeiliche Erlaubnis hat, sich an einem Orte niederzulassen: aus dem Besitze der Niederlassungsbewilligung in einer Gemeinde folgt nicht ohne weiteres, dass dort politischer Wohnsitz begründet sei. Aufenthalter im Sinn des polizeilichen Begriffes ist, wer die polizeiliche Aufenthaltsbewilligung besitzt ; aus dem Besitz der Aufenthaltsbewilligung folgt weder, dass er am Aufenthaltsort politischen Wohnsitz habe, noch dass er dort keinen politischen Wohnsitz habe. Ein anderer Begriff des Aufenthalts liegt den Artikeln 23 ff. ZGB zugrunde; er ist von der polizeilichen Aufenthaltsbewilligung und auch vom politischen Wohnsitz unabhängig (über den Aufenthalt im Sinne des Artikels 24, Absatz 2, ZGB -- «Eésidence» -- vgl. BGE 56, I, S. 454).

Bundesblatt. 102. Jahrg. Bd. I.

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1322 Der politische Wohnsitz fällt zwar meistens mit dem zivilrechtlichen Wohnsitz zusammen, aber durchaus nicht immer. Zur Klarstellung des Verhältnisses zwischen dem zivilrechtlichen und dem politischen Wohnsitz ist im folgenden zunächst der zivilrechtliche Wohnsitz zu erörtern.

2. Zivilrechtlichen Wohnsitz nach Artikel 23, Absatz l, ZGB hat eine Person am Orte, wo sie sich mit der Absicht dauernden Verbleibens aufhält.

Erforderlich ist ein «sich aufhalten», was immerhin eine bloss vorübergehende Abwesenheit nicht ausschliesst, und die Absicht dauernden Verbleibens. Nach der Gesamtheit der tatsächlichen Verhältnisse ist der Ort zu ermitteln, wo sich der räumliche Mittelpunkt der persönlichen und geschäftlichen Lebensbeziehungen einer Person befindet. Kommen zwei Orte in Frage, so ist demjenigen der Vorzug zu geben, zu dem die stärkeren Beziehungen bestehen.

Was die Absicht dauernden Verbleibens anbelangt, so ist auf ihre äusserlich wahrnehmbare Verwirklichung abzustellen; massgebend ist die Absicht, wie sie nach aussen in erkennbarer Weise in Erscheinung tritt. Die Absicht dauernden Verbleibens («l'intention de s'y établir») erfordert nicht den Willen, den Aufenthaltsort nicht mehr oder doch nicht in absehbarer Zeit zu verlassen.

Sie kann auch gegeben sein, wenn mit der Möglichkeit eines Wechsels aus bestimmten Gründen zu rechnen ist oder sogar feststeht, dass der Aufenthalt nach bestimmter Zeit wieder aufhöre (BGE 69, I, S. 79). Auch ein Aufenthalt von zum voraus beschränkter Dauer kann genügen. So genügt es, wenn beabsichtigt ist, einen Ort --· sei es auch nur für kürzere Zeit -- zum Mittelpunkt seiner Lebensverhaltnisse, seiner persönlichen und geschäftlichen Beziehungen zu machen und ihm dadurch eine gewisse Stabilität zu verleihen (BGE 41, III, S. 53). Kann ein Wohnsitz auch auf verhaltnismässig kurze Dauer begründet werden, so ist dem Begriffe des Wohnsitzes doch nur Genüge getan mit einem festen, die wichtigsten Lebensbeziehungen erfassenden Verbleiben, nicht auch mit einer Wohnungsnahme zu bestimmtem Einzelzweck, z. B. zur Durchführung eines Scheidungsverfahrens (BGE 64, II, S. 403). Laut BGE 69, II, S. 281, will allerdings das Gesetz, indem es die Absicht dauernden Verbleibens fordert, nur besagen, dass rein zufällige oder momentane Beziehungen zur Wohnsitzbegründung nicht
ausreichen. Inbetreff eines Aufenthalts kraft Anstellung und zum Zwecke des Unterhaltserwerbs wird im BGE 69, I, S. 78, ausgeführt, dass dieser Zweck an sich dauernder Natur ist und den seiner Verwirklichung dienenden Aufenthalt nur dann ausnahmsweise nicht zum zivilrechtlichen Wohnsitz zu machen vermag: a. wenn zum voraus feststeht, dass der Zweck am betreffenden Ort aus im Betriebe des Dienstherrn liegenden Gründen nur vorübergehend während einer bestimmten Zeit verwirklicht werden kann, wie dies speziell bei den Saisonarbeitern der Fall ist, oder b. wenn zu einem andern als dem Arbeitsorte stärkere Beziehungen bestehen.

Bei der Frage, zu welchem Orte die stärkeren Bande bestehen, kommt es auf die Gesamtheit der tatsächl'chen Beziehungen an. Bei Personen in unselbständiger beruflicher Stellung werden die durch familiäre und rein persönliche

1323 Bande begründeten Beziehungen als stärker angesehen als die aus der beruflichen Tätigkeit sich ergebenden. So wird bei verheirateten unselbständig Erwerbenden, deren Frau und Kinder an einem vom Arbeitsort des Mannes verschiedenen Orte wohnen, regelmässig der Familienort -- und nicht der Arbeitsort -- als Wohnsitz des Mannes angesehen (vgl. BGE 81, I, S. 242 und S. 595).

Um bei ledigen Unselbständigerwerbenden dem Familienort den Vorrang vor dem Arbeitsort zu geben, ist nach der Praxis erforderlich, dass eine solche Person an jenem Orte nahe Angehörige habe und diese regelmässig an ihren dienstfreien Tagen besuche (BGE 69, I, S. 79). Wo aber ein derart regelmässig, jede Woche wiederkehrender Aufenthalt nicht nachgewiesen ist, wird der Arbeitsort und nicht der Familienort als Wohnsitz betrachtet (BGE 68, I, S. 189). Als Beispiel eines periodischen Wechsels zwischen zwei Orten kann BGE 47, I, S. 159, angeführt werden (Lehrer an einer landwirtschaftlichen Winterschule, der die andere Jahreshälfte mit seinem Vater zusammen auf eigenem Heimwesen in Z. lebte; nach der Sachlage war er mit diesem Ort durch stärkere Bande verknüpft). Ähnlich verhält es sich mit den tessinischen Arbeitern, die den Winter bei ihrer Familie im Tessin zubringen, einen grossen Teil des Jahres aber jeweilen in andern Kantonen ihrer Arbeit nachgehen.

Das ZGB sorgt dafür, dass jedermann einen zivilrechtlichen Wohnsitz hat. Durch die Fiktion des Artikels 24, Absatz l -- Fortdauer des einmal begründeten Wohnsitzes bis zum Erwerb eines neuen --, und durch die subsidiäre Norm, dass unter den Voraussetzungen von Absatz 2 des Artikels 24 der Aufenthaltsort als Wohnsitz gilt, ist gesorgt, dass, wer nicht schon nach Artikel 28, Absatz l, Wohnsitz hat, Wohnsitz nach Artikel 24 hat.

3. Wenn auch in der Mehrzahl der Fälle der politische Wohnsitz mit dem zivilrechtlichen zusammenfällt, so ergeben sich doch gewisse Abweichungen, da eben der Zweck der beiden Begriffe verschieden ist. Der politische Wohnsitz bestimmt den Ort, wo der Schweizerbürger stimmberechtigt ist.

Eine Abweichung, die allerdings im vorhegenden Zusammenhang nicht weiter in Betracht fällt, besteht für die Studierenden. Diesen ist nach einer mehr als 50 Jahren bestehenden Praxis überlassen, ob sie sich mit dem Familienort oder mit dem Studienort als fester verbunden
betrachten wollen; sie können dadurch, dass sie eine Niederlassungsbewilligung (nicht eine blosse Aufenthaltsbewilligung) verlangen, dem Wohnen am Studienort die Wirkung einer Verlegung ihres politischen Wohnsitzes verschaffen (BGE 58, I, S. 279; Zeitschrift für Staats- und Gemeindeverwaltung 1938, S. 149, und 1949, S. 105).

Wer in einer Gemeinde zivilrechtlichen Wohnsitz nach Artikel 23 ZGB hat, der hat in der Regel dort auch seinen politischen Wohnsitz. Hingegen ist der im Interesse des Rechtsverkehrs aufgestellte Grundsatz des Artikels 24, Absatz l, ZGB -- wonach der einmal begründete Wohnsitz trotz tatsächlicher Preisgabe bis zum Erwerb eines neuen fortbesteht -- auf den politischen Wohnsitz nicht anwendbar. Das ist die wichtigste Abweichung des Begriffs des poli-

1324 tischen Wohnsitzes von dem des zivilrechtlichen. Sobald der für den politischen Wohnsitz massgebende Tatbestand nicht mehr erfüllt ist, verliert der Stimmfähige seinen bisherigen politischen Wohnsitz, auch wenn an einem andern Ort ein neuer nicht begründet wird. Gerade deshalb erscheint es als geboten, hinsichtlich der Absicht dauernden Verbleibens beim politischen Domizil weniger strenge Anforderungen zu stellen als beim zivilrechtlichen; denn sonst würde man die Fälle vermehren, in denen ein Stimmfähiger seine politischen Rechte nicht ausüben kann.

Der politische Wohnsitz ist eine rechtserhebliche Tatsache; er wird begründet, sobald die bestimmte tatsächliche Beziehung zu einer Gemeinde vorhanden ist. Er erfordert einerseits das Verweilen an einem Ort, anderseits den Willen, dort «dauernd» zu verbleiben. Eine bloss zufällige oder momentane Anwesenheit genügt nicht. Bei der Absicht dauernden Verbleibens «kommt es auf die Verumständungen des Falles an, wann eine solche Absicht anzunehmen ist, und auch ein von vornherein zeitlich begrenzter Aufenthalt schliesst nicht ohne weiteres die Annahme eines Wohnsitzes aus. Immer aber muss das Verbleiben an dem betreffenden Ort als solches um seiner selbst willen beabsichtigt sein, damit von einem Wohnsitz gesprochen werden kann» (BGE 49, I, S. 430).

Es genügt z. B. nicht der Zweck, an diesem Ort an einer Abstimmung teilzunehmen. An die Intensität und Dauer des beabsichtigten Verbleibens sind keine hohen Anforderungen zu stellen. So wird auch im BGE 53,1, S. 279, ausgeführt: «Auch mag unter Umständen grösseres Gewicht als auf die Dauer und Intensität der Beziehungen zum neuen Aufenthaltsorte darauf zu legen sein, dass die Beziehungen zum bisherigen Wohnorte gelöst oder doch derart gelockert worden sind, dass sie vor dem neugegründeten zurücktreten.» Ein weitherziger Standpunkt rechtfertigt sich bei politischem Wohnsitz, weil der Grundsatz der Portdauer des bisherigen Wohnsitzes nicht anwendbar ist. Bei der Peststellung des Willens, einen Ort als wenigstens zeitweiligen räumlichen Mittelpunkt der Lebensbeziehungen zu wählen, kommt der Tatsache, dass ein früherer Wohnsitz aufgegeben wurde, besonderes Gewicht zu (vgl. Burckhardt, Kommentar S. 366 sowie Bundesblatt 1909, VI, S. 471). Bloch (Zeitschrift für schweizerisches Eecht, neue Polge, Bd. 23,
S. 415-418) führt aus, dass --· abgesehen von Vaganten -- jeder Schweizer notwendigerweise ein reales Domizil (im Sinne des politischen Wohnsitzes) besitze.

Von besonderem Interesse ist, dass das Bundesgericht im Urteil über die Knutwiler «Wahlknechte» (BGE 49, I, S. 433) sich nebenbei auch über die Saisonangestellten äusserte und den wesentlichen Unterschied zwischen diesen einerseits und den Wahlknechten, die an einen Ort gezogen waren, nur um dort an einer Wahl teilzunehmen, andererseits hervorhob: «Die Hotelangestellten, die sich nur während einer Saison in einer Gemeinde aufhalten, gehören dieser Gemeinde eben, wenn nicht zu einer andern stärkere Beziehungen bestehen, kraft besonderer, ausserhalb des Zweckes der Teilnahme an den Wahlen und Abstimmungen liegenden Beziehungen an, weshalb sie dann durchaus richtigerweise als dort Wohnsitz- und stimmberechtigt erklärt wurden.»

1325 Die Frage, wo jemand seinen politischen Wohnsitz hat, ist namentlich bei Personen, deren Tätigkeit sich schwer auf einen einzigen Mittelpunkt zurückführen lässt, nicht immer leicht zu beantworten. In jedem zweifelhaften Fall kann sie nur durch Berücksichtigung aller tatsächlichen Umstände richtig entschieden werden.

Eine momentane Abwesenheit unterbricht den politischen Wohnsitz nicht.

Wohl aber hört dieser an einem Ort auf, wenn der Stimmfähige definitiv wegzieht und damit seine Bande zu diesem Orte löst; der Stimmfähige holt dort bei seinem Wegzug seine Papiere zurück und wird im Stimmregister gestrichen, II

1. Insbesondere unter den ledigen Saisonangestellten und Saisonarbeitern gibt es viele Stimmfähige, die keinen durch Eintrag im Stimmregister festgestellten politischen Wohnsitz haben. Ihre saisonbedingte Tätigkeit bringt mit sich, dass sie häufig nach relativ kurzer Zeit ihren Arbeitsort wechseln müssen.

Gewiss gibt es auch unter den Stimmfähigen, die häufig ihren Aufenthaltsort wechseln, viele, die am Familienort politischen Wohnsitz haben, so insbesondere verheiratete unselbständig Erwerbende, deren Familien ständig am gleichen Orte wohnen. Für diese Personen, die ihren Wohnsitz am Familienort haben, wird schon durch die in Aussicht genommenen Vorschriften über die Stimmabgabe der vom Wohnsitz Abwesenden dafür gesorgt, dass sie ihren Stimmzettel am Anwesenheitsort ausfüllen und nach dem Wohnsitzkanton weiterleiten können. Anders verhält es sich aber mit denjenigen Stimmfähigen, die noch keinen durch Eintrag im Stimmregister festgestellten politischen Wohnsitz haben. Diese sind eben nirgends im Stimmregister eingetragen und, wenn sie sich am Ort der Saisonstelle zum Eintrag ins Stimmregister anmelden, so werden sie -- nach einer Praxis, die zwar nicht in allen, aber doch in vielen Kantonen besteht -- abgewiesen. Besonders stossend ist es, wenn sich dies wiederholt und sie auf diese Weise jahrelang oder gar jahrzehntelang ihr Stimmrecht nicht ausüben können. Für viele Ledige kommt ein Familienort nicht als politischer Wohnsitz in Betracht, da als Wohnsitz eines Ledigen ein Familienort nur dann gilt, wenn besonders starke Beziehungen zu diesem Orte bestehen. Wenn diese Voraussetzung nicht erfüllt ist, bildet eben in der Begel der Arbeitsort den räumlichen Mittelpunkt der Lebensbeziehungen des Stimmfähigen, weil zu keinem andern Ort engere Bande bestehen. Es liegt im Sinne der Grundsätze, die das Bundesgericht über den politischen Wohnsitz entwickelt hat, dass das Saisonpersonal am Orte, wo es sich während der Saison aufhält, politischen Wohnsitz während dieser Zeit hat, wenn nicht zu einem andern Orte stärkere Beziehungen bestehen (vgl. das in Ziff. I, 3, oben angeführte Zitat aus BGE 49, I, S. 433). Es erscheint jedoch als angezeigt, dies in einer Gesetzesvorschrift ausdrücklich festzulegen, weil die Erfahrung gezeigt hat, dass vielerorts eine gegenteilige Praxis gehandhabt wird. Der Erlass einer Gesetzesvorschrift erscheint um der Kechtssicherheit willen als geboten.

1326 2. Die im Einklang mit der Verfassung aufzustellende Gesetzesvorschrift kann sich an die bewährten bisherigen Leitsätze über den politischen Wohnsitz anlehnen, somit auf die tatsächlichen stärkeren Beziehungen zu einem Ort abstellen. Die Vorschrift soll sich aber mir auf den politischen Wohnsitz in eidgenössischen Angelegenheiten erstrecken. Zwar hat die bisherige Praxis angenommen, dass der Begriff des politischen Wohnsitzes ein einheitlicher sei, der in gleicher Weise in eidgenössischen, in kantonalen und in kommunalen Angelegenheiten gelte. In der praktischen Wirksamkeit des politischen Wohnsitzes bestand aber ohnehin der Unterschied, dass es in eidgenössischen Angelegenheiten keine Karenzfrist gibt, während in Kantons- und Gemeindeangelegenheiten Karenzfristen zulässig sind. Zudem sind ja auch sonst die Voraussetzungen der Stimmberechtigung in eidgenössischen Sachen nicht durchwegs die gleichen wie in Kantons- und in Gemeindesachen.

8. Ausser den Saisonangestellten und Saisonarbeitern gibt es noch andere Stimmfähige, die infolge ihres Berufes jeweilen an einem Ort Aufenthalt von begrenzter Dauer nehmen und dann nach einem andern Orte ziehen, wo sie ebenfalls nur Aufenthalt von begrenzter Dauer nehmen ; auch unter ihnen kann es solche geben, die mit keinem andern Orte durch stärkere Bande verknüpft sind. Möglicherweise können ähnliche Aufenthaltsverhältnisse auch aus andern Gründen vorkommen, z. B. infolge Krankheit oder längerer Erholungsbedürftigkeit. Auch bei diesen Stimmfähigen liegen Verhältnisse vor, die denjenigen des Saisonpersonals gleichartig sind.

Da aber das Saisonpersonal die hauptsächlich in Betracht fallende Gruppe bildet, empfiehlt sich, eine Gesetzesvorschrift für Stimmfähige aufzustellen, die eine saisonbedingte Tätigkeit ausüben. Damit gelangt man zu einer konkreten Eegelung für diese wichtige Gruppe. Selbstverständlich will die vorgeschlagene Gesetzesvorschrift kein Vorrecht zugunsten dieser Gruppe schaffen, sondern ihr Sinn und Zweck trifft ohne weiteres auch auf andere Stimmfähige zu, die sich in einer gleichartigen Lage befinden. Deshalb führt schon die Auslegung der vorgeschlagenen Bestimmung nach ihrem Zweckgedanken zur analogen Anwendung auf Stimmfähige, bei denen gleichartige Verhältnisse vorliegen. Wollte man die Vorschrift so fassen, dass schon ihr Wortlaut
auch die andern, in gleichartiger Lage befindlichen Stimmfähigen berücksichtigen würde, so käme man zu einer abstrakten Formulierung, die in der Praxis zu Unklarheit und Unsicherheit führen müsste.

Es ist noch darauf hingewiesen worden, dass Patienten und Erholungsbedürftige vielleicht gezwungen sind, sich 2 bis 3 Jahre in Kliniken, Sanatorien oder Chalets in den Bergen aufzuhalten; möglicherweise ist der eine oder andere von ihnen mit keinem andern Orte durch stärkere Bande verknüpft. Sollte ein solcher Fall vorkommen, so kann man auf ihn die vorgeschlagene Gesetzesbestimmung a fortiori anwenden, zumal man es mit einem Aufenthalt zu tun hätte, der längere Zeit dauern soll und dessen Ende von noch Ungewissen Umständen abhängig ist; dann wird dort wohl sogar zivürechtlicher Wohnsitz gemäss Artikel 28 ZGB begründet sein.

1327 Pestzuhalten ist am Grundsatz, dass eine ganz vorübergehende oder rein zufällige Anwesenheit nicht genügt. Auch eine Anwesenheit nur zu einem Einzelzweck, z. B. zwecks Teilnahme an einer Abstimmung, reicht nicht aus. Auf Personen, deren Beruf oder Lebensweise ein beständiges Herumziehen von Ort zu Ort bedingt -- z. B. wandernde Handwerksburschen, umherziehende Artisten usw. oder gar Vaganten -- erstreckt sich die Gesetzesvorschrift nicht.

4. Dafür, ob der Aufenthalt am Ort der saisonbedingten Tätigkeit politischen Wohnsitz begründet, ist ausschlaggebend, ob nicht zu einem andern Orte stärkere Beziehungen bestehen. Die vom Nationalrat beschlossene Fassung des Artikels 3Ws stellt darauf ab, ob der Stimmfähige nicht an einem andern Orte schon einen politischen Wohnsitz hat. Diese Formulierung wurde deshalb gewählt, weil sie leichter verständlich ist als ein Text, der von stärkeren Beziehungen zu einem andern Orte spricht. Die stärkeren Beziehungen bilden aber das Kriterium, nachdem sich entscheidet, ob der Saisonangestellte seinen politischen Wohnsitz am Orte der Saisonstelle oder an einem andern Orte (Familienort) hat.

Gegen die Fassung des Nationalrates ist der Einwand erhoben worden, dass nach ihr auch Auslandschweizer, die in der Schweiz eine Saisontätigkeit ausüben, am Saisonort stimmen könnten. Die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen Auslandschweizern ermöglicht werden soll, während ihres Verweüens in der Schweiz in eidgenössischen Angelegenheiten zu stimmen, soll aber gar nicht durch die zur Beratung stehende Vorlage gelöst werden, sondern Gegenstand einer späteren besondern Prüfung sein. Die Vorschrift, die jetzt in das Gesetz von 1872 eingefügt werden soll, soll die Frage der Auslandschweizer, die späterer Prüfung vorbehalten bleibt, in keiner Weise präjudi/ieren, sie soll sich also nicht auf Auslandschweizer erstrecken. Aus diesem Grunde erscheint es doch als besser, der neuen Vorschrift einen Wortlaut zu geben, der nicht darauf abstellt, ob der Stimmfähige nicht an einem andern Ort schon einen politischen Wohnsitz hat, sondern darauf, ob er nicht zu einem andern Orte stärkere Beziehungen hat. Der Auslandschweizer hat den räumlichen Mittelpunkt semer Lebensbeziehungen im Ausland, also an einem andern Ort, und folglich erwirbt er keinen politischen Wohnsitz, indem er eine
Saisonstelle in der Schweiz antritt.

5. In der ständerätlichen Kommission war angeregt worden, ausdrücklich vorzuschreiben, dass der Saisonangestellte nur dann politischen Wohnsitz am Saisonort erwerben könne, wenn er dort seinen Heimatschein hinterlegt hat.

Ein solcher Zusatz erscheint als gerechtfertigt. Derjenige Stimmfähige, der am Familienort politischen Wohnsitz hat, wird in der Eegel am Saisonort nicht den Heimatschein, sondern einen Interimsschein hinterlegen. Aber die Hinterlegung des Heimatscheins genügt noch nicht für die Begründung eines politischen Wohnsitzes, sondern es muss namentlich auch die negative Voraussetzung erfüllt sein, dass nicht zu einem andern Ort stärkere Beziehungen bestehen.

Denn wenn der Stimmfähige mit einem andern Ort durch stärkere Bande verknüpft ist, hat er dort -- und nicht am Saisonort -- seinen politischen Wohnsitz.

1328 6. Die Frage, ob zu einem andern Ort stärkere Beziehungen bestehen -- also an einem andern Orte schon politischer Wohnsitz begründet ist -- muss im Einzelfall an Hand des konkreten Sachverhalts beurteilt werden. Der politische Wohnsitz wird eben durch bestimmte tatsächliche Beziehungen begründet, und deshalb muss im Einzelfall an Hand des Tatbestandes der örtliche Schwerpunkt der Lebensbeziehungen des Stimmfähigen ermittelt werden.

Naturgemäss lässt sich bei vielen Personen, die ihren Aufenthaltsort häufig ändern, nur ein örtlicher Schwerpunkt von beschränkter Dauer feststellen.

Verlangt ein solcher Stimmfähiger an einem Orte die Eintragung ins Stimmregister, so muss er Auskunft über seine Lebensverhältnisse erteilen und auf Verlangen die Belege beibringen, deren Beschaffung ihm billigerweise zugemutet werden kann. Der Stimmregisterfuhrer hat den Sachverhalt, soweit nötig, von Amtes wegen abzuklären, vor allem durch Befragung des Stimmfähigen; falls dann noch ernstliche Zweifel bestehen und die vorhandenen Belege nicht ausreichen, kann der Stimmregisterführer sich bei der andern Gemeinde, die als politischer Wohnsitz in Frage kommen könnte, noch erkundigen.

Bei Verheirateten kann in der Eegel vermutet werden, dass der politische Wohnsitz sich am Orte befindet, wo die Familie wohnt.

7. Es steht nicht im Belieben des Stimmfähigen, zu erklären, an welchem Ort er politischen Wohnsitz haben wolle, sondern es kommt einzig darauf an, an welchem Ort sich der räumliche Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen befindet.

Schon darin unterscheidet sich die vorgeschlagene Begelung wesentlich vom Grundsatz, den das Kreisschreiben des Bundesrates vom 13. November 1925 (BB11925, III, 328) aufstellen wollte und der lautete: «Ein stimmfähiger Schweizerbürger, der sich in einer schweizerischen Gemeinde, unter Hinterlegung richtiger Ausweispapiere, als Aufenthalter polizeilich anmeldet und gegen welchen ein Stimmausschliessungsgrund nicht vorliegt, besitzt in dieser Gemeinde das Stimmrecht in eidgenössischen Angelegenheiten, vorausgesetzt, dass er im Stimmregister seines früheren Wohnortes gestrichen worden ist.» Übrigens hatte dieses Kreisschreiben, das dann durch dasjenige vorn 3. Oktober 1937 aufgehoben wurde (BB11937, III, 153), in erster Linie solche Stimmfähige im Auge, die an einem andern Ort einen durch
Eintrag im Stimmregister festgestellten politischen Wohnsitz schon hatten, aber infolge ihrer Beschäftigung abwesend waren. Jenes Kreisschreiben befasste sich nicht etwa speziell mit Stimmfähigen, die noch keinen anerkannten politischen Wohnsitz hatten. Der damals aufgestellte Grundsatz war deshalb rechtlich unhaltbar, weil er Stimmfähigen, die ihren politischen Wohnsitz am Familienort hatten, ermöglichte, durch Hinterlegung der Schriften an einem Aufenthaltsort die Stimmberechtigung daselbst zu erlangen. Die gegenwärtig in Aussicht genommene Vorschrift erstreckt sich dagegen nur auf Stimmfähige, die noch keinen durch Eintrag im Stimmregister festgestellten politischen Wohnsitz haben, und bleibt im Rahmen der Verfassung.

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III Die vorgeschlagene Vorschrift ist in das Bundesgesetz vom 19. Juli 1872 aufzunehmen. Hiefür ist eine separate Gesetzesvorlage nicht nötig. Es ist ani einfachsten, wenn im Artikel 15 der Gesetzesvorlage über die Erleichterung der Stimmabgabe in eidgenössischen Angelegenheiten das Gesetz von 1872 durch Einfügung eines neuen Artikels abgeändert wird. Dies hat auch den Vorteil, dass diese Bestimmung gleichzeitig mit den übrigen Bestimmungen der Vorlage über die Erleichterung der Stimmabgabe in eidgenossischen Angelegenheiten erlassen -wird.

Aus diesen Gründen beantragen wir, in Artikel 15 der erwähnten Gesetzesvorlage folgende Bestimmung aufzunehmen: «Das Bundesgesetz vom 19. Juli 1872 betreffend die eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen erfährt folgende Änderung: Neu eingefügt wird: Art. 3*°^. Übt ein Stimmfähiger an seinem Aufenthaltsort eine saisonbedingte Tätigkeit aus und hat er dort seinen Heimatschein hinterlegt, so erwirbt er daselbst politischen Wohnsitz in eidgenössischen Angelegenheiten, . sofern er nicht zu einem andern Orte stärkere Beziehungen hat.»

Genehmigen Sie, Herr Präsident, hochgeehrte Herren, die Versicherung unserer vollkommenen Hochachtung.

Bern, den 23. Mai 1950.

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates, Der Bundespräsident: Max Petitpierre Der Bundeskanzler: Leimgruber 9121

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Ergänzungsbotschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung zum Gesetzesentwurf über die Erleichterung der Stimmabgabe in eidgenössischen Angelegenheiten (Vom 28. Mai 1950)

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